Marione Ingram – Ein jüdisches Mädchen überlebt versteckt in Hamburg

Stefanie Engel

Marione Ingram (*19.11.1935 in Hamburg)

Geboren wurde Marione Ingram 1935 als Marion Oestreicher. Ihre Mutter Margarete war Jüdin, ihr Vater Emil ein überzeugter Kommunist bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939 und danach weiterhin vehementer Gegner des Nationalsozialismus. Die Eltern lebten – laut Naziterminologie – in einer sogenannten Mischehe. Das bewahrte die Mutter bis 1943 vor der Deportation. Den Vater aber zwangen die Nazis zum Dienst in der Wehrmacht, weil er sich weigerte, die jüdische Ehefrau zu verlassen.

Trotz der politischen Zustände und der fortwährenden täglichen Diskriminierung bekamen Margarete und Emil Oestreicher in der NS Zeit zwei weitere Kinder, die jüngste Tochter, Rena, wurde Ende 1939 bereits nach Kriegsbeginn geboren.

Marione erlebte als Kind Ausgrenzung und Anfeindungen. Ihre beste Freundin in der Nachbarschaft durfte nicht mehr mit ihr spielen und ließ sie das auf gemeinste Weise spüren. Als sie das Schulalter erreichte, verboten die Nationalsozialisten den Schulunterricht für jüdische Kinder gänzlich. Schon seit 1938 hatten sie nur noch jüdische Privatschulen besuchen dürfen.

Während des Kriegs wurde Mariones Vater im besetzten Belgien stationiert. Als überzeugter Antifaschist nutzte er seine Stellung, um sich auch dort im Widerstand zu engagieren. Über das kommunistische Netzwerk fand er eine Pflegefamilie für die mittlere Tochter Helga, die äußerlich so unauffällig wirkte, dass niemand Verdacht schöpfte, sie sei Jüdin. Helgas wahre Identität wurde verschwiegen, sie lebte als Kind in einer fremden systemkritischen Familie. Dieser Kontakt rettete nicht nur Helga, sondern später auch Marione, ihrer Mutter und der kleinen Rena das Leben.

Als im Juli 1943 die massiven Bombardierungen Hamburgs im Rahmen der „Operation Gomorrha“ begannen, hatte Mariones Mutter gerade den Deportationsbefehl nach Theresienstadt erhalten. Allein der durch die Bomben ausgelöste verheerende Feuersturm, der weite Teile der Stadt in Flammen setzte, bewahrte sie und ihre Töchter vor der Deportation. Mehrere Tage und Nächte irrten sie auf der Suche nach Schutz durch die brennenden Straßen und wurden doch überall abgewiesen:

„Im Zentrum des verheerendsten Feuersturms, den je ein Krieg entzündet hatte, rettete mich ironischerweise der entfesselte Hass des internen Krieges gegen die Juden vor dem entsetzlichen Massaker, das die alliierten Bomber unter der Zivilbevölkerung anrichteten. Weil meine Nachbarn mich nicht in den Luftschutzkeller ließen, entkam ich durch Hamburgs im Bombenhagel zerspringende Straßen, während sie gebacken wurden wie Brotlaibe in einem Ofen.“ (Ingram 2016, 29)

Wie durch ein Wunder überleben Marione und ihre Mutter den Feuersturm. Da alle Papiere und Listen verbrannt waren, konnten sie sich inkognito einem der Evakuierungstrecks anschließen, die ausgebombte Menschen aus der Stadt brachten.

Als Kontaktperson zwischen Familie und Vater engagierte sich eine Cousine des Vaters. Sie half Emil Oestreicher, die Evakuierten zu finden und in einer Gartenlaube auf dem Grundstück eben derselben Familie zu verstecken, die bereits Helga in Pflege genommen hatte. Bis zur Befreiung im Mai 1945 vergehen noch beinahe zwei lange Jahre, in denen sie trotz der räumlichen Nähe zu Helga, nicht voneinander wissen oder sich begegnen durften, um nicht alle zu gefährden. Mitunter müssen sie sich sogar in einem Erdloch nahe der Laube verkriechen.

Als Marione im August 1945, inzwischen fast zehnjährig, das erste Mal in ihrem Leben zur Schule gehen durfte, war der Antisemitismus noch lange nicht besiegt. Ihre Mitschülerinnen waren in der Ideologie und Rassenlehre der Nazis erzogen worden. So dauerten der Judenfeindlichkeit, Beschimpfungen und Gewalterfahrungen ihrer frühen Kindheit weiter an. Die drei Schwestern konnten nach einiger Zeit auf eine Schule für jüdische Waisenkinder nach Blankenese wechseln. Diese hatte der aus dem Exil zurückgekehrte Hamburger jüdische Bankier Eric Warburg in seiner ehemaligen Familienvilla eingerichtet. Dort sollten die Kinder und Jugendlichen auf die Auswanderung nach Palästina – in das heutige Israel – vorbereitet werden.

Doch Marione entschied sich anders.1952 folgte sie ihrer Mutter, die mit ihrer jüngeren Tochter in die USA emigriert war. Entsetzt stellte sie fest, dass dort ähnliche Mechanismen der Ausgrenzung und Diskriminierung vorherrschten, wie sie sie in ihrer Kindheit an eigener Person erlebt hatte.

An der Seite ihrer großen Liebe Daniel Ingram wurde sie zur Freiheitskämpferin in der Bürgerrechtsbewegung im Kampf für die Aufhebung der Rassentrennung.

Die beiden leben in Washington D.C.. Bis heute demonstrieren sie aus tiefster Überzeugung gegen jede Form des Unrechts, gegen Diskriminierung und Krieg, für Freiheit und Gleichheit, zuletzt in der Black Lives Matter-Bewegung. Marione liest an Schulen und Universitäten aus ihrem Buch und engagiert sich für eine lebendige Erinnerungskultur. Gespräche mit jungen Menschen geben ihr Mut, Hoffnung und Kraft, weiterzukämpfen.

Unterrichtsmaterial finden Sie auf der Unterseite „Materialien“ unter  „Die Entrechtung der Hamburger Juden“