„Chinesenaktion“. NS-Verfolgung und keine Wiedergutmachung 1933-1949

Lars Amenda

Kurz nach Beginn der NS-Herrschaft entließen Hamburger Reedereien ihre rund 600 chinesischen Heizer. Ob auf Druck seitens der neuen Machthaber oder in vorauseilendem Gehorsam angesichts der staatstragenden „Rassenpolitik“, ist unklar. Die Chinesische Botschaft in Berlin protestierte vehement gegen das Vorgehen, weshalb die NS-Rassenpolitik anschließend gegen chinesische und japanische Staatsangehörige im Deutschen Reich nur versteckt angewendet wurde.

Trotz des dramatisch verschärften staatlichen Rassismus seit 1933 lösten die Nationalsozialisten das „Chinesenviertel“ keineswegs auf. Sogar neue chinesische Migranten gelangten nach Hamburg wie der Schiffskoch Chong Tin Lam aus Hongkong. Er arbeitete seit 1936 im Lokal seines Onkels in Hamburg und eröffnete 1938 in der Heinestraße 14 sein eigenes Restaurant namens „China-Restaurant“ – vielleicht die erste Bezeichnung dieser Art überhaupt.

Abb 1: Chong Tin Lam um 1925

Das nationalsozialistische Regime bereitete sich ab 1936 auf den kommenden Angriffs- und Vernichtungskrieg vor und forcierte deshalb massiv die Aufrüstung. Da viele benötigte Rohstoffe auf dem internationalen Markt gekauft werden musste, verschärfte das Regime die Devisenpolitik im Zuge des zweiten Vierjahresplans 1936/37. Dies wirkte auch auf die chinesischen Kreise in St. Pauli zurück, denn Polizei und Zollfahndungsstelle führten anschließend häufig Razzien in den chinesischen Stätten durch. Nicht nur nach Devisen und Drogen suchten die Beamten, sondern spionierten vor dem Hintergrund der NS-Rassenpolitik auch intime Beziehungen zwischen chinesischen Männern und deutschen Frauen aus.

1938 richtete die Polizei eine „Reichszentrale für Chinesen“ im Reichskriminalpolizeiamt in Berlin ein. Hier wurden nicht nur gerichtliche Urteile, sondern jeglicher Verdacht gegenüber chinesischen Staatsangehörigen im deutschen Reichsgebiet vermerkt. Dies richtete sich insbesondere gegen die sehr mobilen chinesischen Straßenhändler, damals abwertend „Hausierer“ genannt, aus der Region Qingtian, die häufig über den Hamburger Hafen nach Deutschland einreisten.

Abb 2: Titelseite von Alfons Zech Kriminalroman über das Chinesenviertel in St. Pauli 1936

Chinesische Figuren wie „Fu-Manchu“ personifizierten in der westlichen Unterhaltungskultur seit dem frühen 20. Jahrhundert Kriminalität und otherness. Dies spiegelte sich ebenfalls in Hamburg wieder. 1936 veröffentlichte Alfons Zech, Verfasser zahlreicher Kriminalromane, Begegnung auf der Landstraße. Darin reißt die 21-jährige Veronika aus ihrem Elternhaus im Ruhrgebiet und landet in den chinesischen Kreisen in St. Pauli. Der Chinese Liu Chun hilft ihr anfangs, benutzt sie aber keimlich als Drogenkurierin und will sie sogar als Sklavin nach China verkaufen. Der Kriminalroman verbreitet zentrale Punkte der NS-Rassenpolitik auf dem Feld dem Unterhaltung und kriminalisierte chinesische Migranten in St. Pauli. Im dem 1943/44 produzierten Spielfilm „Große Freiheit Nr. 7“ findet sich eine längere Szene die in einem Lokal Shanghai in der nachgestellten Großen Freiheit. In der für die Story des Films wichtigen Passage, reift der Entschluss Hannes Krögers, gespielt von Hans Albers, wieder zur See zu fahren. Das chinesische Lokal symbolisiert dabei die Internationalität St. Paulis und letztlich der Schifffahrt.

Abb. 3: Unbekanntes Kind deutsch-chinesischer Eltern auf den Schultern eines Jungen in der Schmuckstraße um 1941

Während Große Freiheit Nr. 7 gedreht wurde, verfolgten Polizei und Gestapo chinesische Migranten in Hamburg. Bereits nach Beginn des Zweiten Weltkrieges verschärfte sich die Lage der Chinesen in St. Pauli. Mit der Kriegserklärung der Chinesischen Republik an NS-Deutschland am 1941 entfiel der zuvor so wichtige diplomatische Schutz. Polizei und Sicherheitsorgane führten nun noch häufiger Razzien in den chinesischen Kreisen durch. Einige Chinesen wie Chen Chun Ching, als Vermittler u. a. für den norddeutschen Lloyd tätig, kehrten aufgrund des zunehmenden Verfolgungsdrucks auf dem mühsamen Landweg nach China zurück. Der alliierte Bombenkrieg ab 1943 beeinträchtigte ebenfalls das Leben der chinesischen Community. Wie die vielen tausenden Zwangsarbeiter*innen durften chinesische Männer bei Alarm nicht die Luftschutzbunker aufsuchen.

Am 13. Mai 1944 führte die Gestapo in den frühen Morgenstunden die „Chinesenaktion“ in den Straßen St. Paulis durch. 129 chinesische Männer wurden in Wohnungen und Unterkünften festgenommen und vorerst ins Gestapogefängnis Fuhlsbüttel verschleppt. Dort misshandelte der für die „Chinesenaktion“ verantwortliche Gestapobeamte Erich Hanisch persönlich im „Verhörzimmer“ die chinesischen Gefangenen auf brutalste Weise. Der offizielle Vorwurf lautete „Feindbegünstigung“, da die Chinesen einigen Landsleuten die Flucht aus Deutschland ermöglicht hätten, welche dann anschließend wieder auf britischen Handelsschiffen gearbeitet hätten. In Wahrheit beruhte die kollektive Verfolgung hingegen auf der NS-Rassenpolitik. Dies zeigte sich ebenfalls darin, dass Hanisch deutsche Partnerinnen chinesischer Männer drangsalierte und einige von ihnen ins KZ Ravensbrück einwiesen ließ. Erich Hanisch hatte sich als Täter des Holocaust radikalisiert. Von 1941 bis 1943 organisierte er im besetzten Polen Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager. Nach seiner Rückkehr nach Hamburg 1943 führte er den von ihm empfundenen „Rassenkrieg“ gegen osteuropäische Zwangsarbeiter*innen und ebenfalls gegen die kleine Gruppe chinesischer Männer fort.

Im Herbst 1944 überstellte Hanisch eine Gruppe von ca. 60-80 chinesischen Gefangenen in das „Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg“. Dort mussten die Männer schwere Zwangsarbeit in umliegenden Betrieben wie Raffinerien und bei der Trümmerbeseitigung leisten. Exzessive Gewalt und völlig unzureichende Ernährung zehrten die Kräfte der chinesischen Gefangenen aus, die im Lager besonders auffielen und häufig kaum die deutsche Sprache beherrschten. Mindestens 17 chinesische Männer starben an den Folgen des NS-Terrors, wie bereits eine britische Untersuchung 1948 ergab, deren Ergebnis durch eine vom St. Pauli-Archiv 2022 beauftragte Recherche in den Bestattungsregistern des Friedhofs Ohlsdorf bestätigt werden konnte.

Abb. 4: 2019 wurden 13 Stolpersteine für chinesische NS-Opfer an der Schmuckstraße verlegt

Das maritim geprägte „Chinesenviertel“ in St. Pauli war damit gewaltsam aufgelöst worden. Nur 30 chinesische Männer blieben nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Hamburg, in der Hoffnung auf wirtschaftliche bessere Zeiten. Ihr langjähriger Kampf um „Wiedergutmachung“ und Anerkennung der Verfolgung blieb letztlich erfolglos. Das Wiegutmachungsamt und die Gerichte bescheinigten der Gestapo und Erich Hanisch ein normales polizeiliches Vorgehen und verneinten eine rassistische Motivation. „Sie war in ihrer Form typisch nationalsozialistisch, sie war dieses aber nicht in ihrer Richtung“, bewertete 1950 das Wiedergutmachungsamt die „Chinesenaktion“ ebenso falsch wie spitzfindig.

Abb. 5: Installation der Künstlerin Dagmar Rauwald mit Bild des Stolpersteins für Woo Lie Kien und weiteren Abbildungen 2018

Die NS-Verfolgung im Rahmen der „Chinesenaktion“ geriet in der Nachkriegszeit zum Tabu-Thema in der chinesischen Community. Der wirtschaftliche Erfolg der China-Restaurants seit den 1960er Jahren überdeckte die belastende Geschichte. Erst in den 1980er Jahren begann die schrittweise Aufarbeitung. Ein erste Gedenktafel errichteten die Künstler Michael Batz und Gerd Stange Ende der 1990er Jahre; das St. Pauli-Archiv ließ 2011 eine neue Erinnerungstafel an der Schmuckstraße aufstellen. 2019 verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig 13 Stolpersteine für namentliche bekannte chinesische Opfer. Zudem entstanden mehrere Filme und die eine Sonderausstellung behandelte 2018 das Thema in einer Sonderausstellung im Hafenmuseum. Es war ein langer Weg zu Erinnerung an die nationalsozialistische „Chinesenaktion“.

Abb. 6: Die 2011 vom St. Pauli-Archiv errichtete Gedenk- und Informationstafel an der Ecke Schmuckstraße/Talstraße

 

 

Weiterführende Literatur:

Amenda, Lars, Migration und Kriminalisierung. Das „Chinesenviertel“ in St. Pauli/Altona und der Unterhaltungsroman „Begegnung auf der Landstraße“ (1936) von Alfons Zech, in: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 46 (2005), S. 92-119.

Amenda, Lars, „Chinesenaktion“. Zur Rassenpolitik und Verfolgung im nationalsozialistischen Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 91 (2005), S. 103-132.

Amenda, Lars, Fremde – Hafen – Stadt. Chinesische Migration und ihre Wahrnehmung in Hamburg 1897-1972, München/Hamburg 2006 (Forum Zeitgeschichte, Bd. 17).

Amenda, Lars, China in Hamburg, hrsg. von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg 2011.

Amenda, Lars, Heizer, Köche & Container. China in Hamburg. Begleitbroschüre zur Ausstellung / 锅炉工,厨师和集装箱。中国在汉堡, hrsg. vom St. Pauli-Archiv, übersetzt von Keke Wei, Hamburg 2018.

Amenda, Lars, „Chinesenviertel“. Migration, Imagination und Erinnerung, in: Jürgen Zimmerer/Kim Sebastian Todzi (Hrsg.), Hamburg: Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung, Göttingen 2021 (Beiträge zur Geschichte der kolonialen Globalisierung, Bd. 1), S. 415-427.

Amenda, Lars, „… ganze Rudel von Chinesen“. Anti-chinesischer Rassismus in Hamburg 1900-1950, in: Mechthild Leutner/Pan Lu/Kimiko Suda (Hrsg.), Anti-asiatischer Rassismus in Deutschland: Historische und gegenwärtige Kontexte, Diskurse und praktische Erscheinungsformen, Widerstand, Wien 2022 (Berliner China-Hefte), S. 63-77.

Zech, Alfons, Begegnung auf der Landstraße. Ein Hamburger Roman aus dem Jahre 1928-29, Berlin 1936.

Bildnachweis

Abb slider: https://geschichtsbuch.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/255/2024/01/Chinesische-Communitys-in-Hamburg_%E6%B1%89%E5%A0%A1%E7%9A%84%E5%8D%8E%E4%BA%BA%E7%A4%BE%E5%8C%BA.pdf. Alle Rechte bei Lars Amenda; Abb. 1: Nachlass Marietta Solty / Abb. 2: Zech, Begegnung auf der Landstraße, unpaginiert / Abb. 3: Susanne Schneider/Claudia Leitsch, Sankt Pauli während des Nationalsozialismus. Ein historischer Stadtteil-Rundgang, hrsg. von Gemeinwesenarbeit St. Pauli-Süd, Hamburg 1989, S. 31 / Abb. 4, 5 und 6: St. Pauli-Archiv.