Kirsten Heinsohn
Bis 1890 hatte sich in Hamburg bereits eine größere Anzahl sozialer, berufspolitischer und an Bildungsfragen interessierter Frauenvereine etabliert. In allen Vereinen waren auch einige Frauen tätig, die sich für die entstehende allgemeine Frauenbewegung interessierten bzw. ihre persönlichen Leistungen durchaus als Beitrag zu dieser verstanden.
So charakterisierte etwa Marie Kortmann (1851-1937) ihre Tante Emilie Wüstenfeld als bewußte Trägerin der Bewegung. Emilie Wüstenfeld hatte persönliche Kontakte zu den ersten Führerinnen der neu entstehenden Frauenbewegung, wie z.B. Louise Otto, und trat 1866/67 dem geschäftsführenden Ausschuss des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins bei.
Zur Initialzündung der neuen Blüte der Frauenbewegung wurde der „Internationale Kongreß für Frauenwerke und Frauenbestrebungen“, der im September 1896 in Berlin tagte. Der „Hamburger Generalanzeiger“ berichtete über eine Versammlung von Frauen in Hamburg: „Anläßlich des in Berlin tagenden internationalen Frauenkongresses wurde in Hamburg in einer zu dem Zwecke einberufenen privaten Damengesellschaft lebhaft über die Frauenbewegung debattirt. Es wurde manches ernste Wort gesprochen. Zum Schluß aber, als der Thee gereicht wurde, stieg ein von einer Dame gedichteter Allgemeingesang ,Weckruf der Frauen …‘: Wir stehen beisammen, wie Schwestern es thun, Die Freiheit zu schützen, woll’n nimmer wir ruhn’n, Wir lieben den Frieden, wir hassen den Streit, Doch wenn uns die Pflicht ruft, dann sind wir bereit: Wir wollen gleiches Recht für’s weibliche Geschlecht, Wir woll’n nicht länger dienen als des Mannes Knecht! Hurrah, Hurrah, die Frauen sind da.‘“
Wohl aus dieser Versammlung heraus konstituierte sich am 1. September 1896 eine Ortsgruppe Hamburg des ADF. Zunächst wurden ca. 70 Frauen als Mitglieder geworben, aber schon bald expandierte der Verein: Ende des Jahres 1899 waren es rund 430 Personen, 1905 etwa 600, darunter auch einige Männer. Die Gründung der Ortsgruppe markierte einen deutlichen Generationenwechsel im hamburgischen Frauenvereinswesen. Bis zum Beginn des Kaiserreiches war noch die „alte“ Führungsschicht der ersten Frauenvereine aktiv, beispielsweise Emilie Wüstenfeld und Johanna Goldschmidt. Im Laufe der siebziger und achtziger Jahre übernahmen jüngere Frauen die Vorstandssitze und Geschäftsführung der älteren Vereine. Aus dieser Gruppe heraus bildeten sich Vereine, die eine neue Generation bürgerlicher Frauen ansprachen.
Dieser zweiten folgte schnell eine dritte Generation bürgerlicher Frauen, die in den siebziger und achtziger Jahren geboren waren, und keine persönlichen Erinnerungen an die ersten Frauenvereinsvorsitzenden hatten. Die dritte Frauengeneration wuchs schon unter den Bedingungen des Deutschen Reiches mit seiner rasanten ökonomischen Entwicklung auf. Ihr Bezugspunkt war zwar die Stadt Hamburg, doch bildeten die sozialen und politischen Verhältnisse im Reich den eigentlichen Fluchtpunkt ihrer Entwürfe.
Zunächst fanden sich jedoch Frauen der zweiten und dritten Generation zusammen, um die Tätigkeiten der neuen Ortsgruppe des ADF zu koordinieren. Der erste Vorstand des neuen Vereins setzte sich aus beiden Gruppen zusammen: Helene Bonfort, Anna Meinertz und Julie Eichholz aus der „älteren“ Gruppe arbeiteten u.a. mit den „Jüngeren“ um Lida Gustava Heymann zusammen.
Die gemeinsame Sache umfasste drei Tätigkeitsbereiche: Frauen, die sozialpolitisch tätig waren, sollten geschult und ausgebildet werden, um dieses Arbeitsfeld zu professionalisieren. Darüber hinaus verfolgte die neue Ortsgruppe den Anspruch, die bereits vorhandenen Frauentätigkeiten zu verbinden und zu strukturieren; sie wollte einen Mittelpunkt für die alten und neuen Frauenvereine bilden. Schließlich suchte der ADF aber auch nach innovativen Wegen und Mitteln, um die Anliegen bürgerlicher Frauen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, d. h. sie legte gegenüber den älteren Vereinen ein stärkeres Gewicht auf öffentliche Präsenz und „Propaganda“. Es war insbesondere dieses letzte Arbeitsfeld, das eine Erneuerung darstellte: Zum einen wurde ein regelmäßiges Vortragsprogramm angeboten, mit dem über alle Fragen der Frauenbewegung informiert wurde, und dazu eine ganze Reihe von Broschüren sowie Berichten in den hamburgischen Tageszeitungen publiziert. Auf diese Weise erfuhr die interessierte Öffentlichkeit regelmäßig von Meinungen und Projekten aus dem ADF. Auch intern wurden die Mitglieder „geschult“, etwa auf regelmäßig stattfindenden Diskussionsabenden, bei denen es auch darum ging, die „parlamentarischen“ Regeln einzuüben.
Zum anderen versuchte der Verein aber auch, konkret Einfluss auf die Gestaltung weiblicher Lebensbedingungen zu nehmen und dafür ebenfalls öffentlichkeitswirksame Propaganda zu betreiben. Die Ortsgruppe Hamburg des ADF richtete fünf große Abteilungen ein, die sich den Themen der Frauenbewegung sowie der vorhandenen Frauenvereine widmeten: Wohlfahrtspflege, Jugendschutz, Kostkinderwesen, Frauenbildung und Rechtsschutz. Aus diesen Abteilungen gingen eigenständige, neue Vereine hervor, die ihre Tätigkeiten entsprechend professionalisierten. Als Beispiele seien hier nur genannt: Aus der Abteilung für Wohlfahrtspflege heraus wurden 1900 die „Sozialen Hilfsgruppen“ etabliert und 1912 der „Hamburgische Verband für Waisenpflege, Armenpflege und Vormundschaft“ eingerichtet, ein Zusammenschluss der wichtigsten Institutionen auf diesem Feld. Die Abteilung Jugendschutz baute ab 1899 das „Annaheim“ auf, eine Lehranstalt für Dienstmädchen. Im Bereich der Frauenbildung initiierte die Ortsgruppe den „Verein für Haushaltungsschulen“, ebenso wie den Verein „Frauenbildung und Frauenstudium“, der sich für die Zulassung von Mädchen zum Abitur einsetzte.
Schließlich richtete die Abteilung Rechtsschutz eine eigene Rechtsberatungsstelle ein, die sehr erfolgreich arbeitete und 1911 sogar in einen eigenständigen Verein umgewandelt wurde. Diese und eine Reihe anderer Initiativen stärkten das Ansehen der Ortsgruppe und ihrer Vertreterinnen in der Stadt. Da Frauen in Hamburg nicht das Bürgerrecht erwerben konnten und daher zu den einflussreichen, kommunalpolitisch aktiven Bürgervereinen nicht zugelassen waren, war die Mitarbeit in der Ortsgruppe oder in einer ihrer Abteilung eine vergleichbare Bürgerinnenarbeit für die sozialen und kommunalen Belange der Stadt – und des eigenen Geschlechts.
Das Selbstverständnis des ADF in Hamburg war von den Grundgedanken der gemäßigten Frauenbewegung geprägt, unter dem Motto „Leben ist Streben“. Die Mitglieder des Vereins verstanden ihre Tätigkeiten als Pflichterfüllung, die eine Voraussetzung für die Erlangung weiterer Rechte für Frauen war. Gegenüber sozialdemokratischen Ideen wurde betont, es sei Ziel des Frauenvereins, Veränderungen langsam und stetig, ohne staatliche Umwälzungen zu erreichen: „Evolution, nicht Revolution! Auf allen Gebieten des häuslichen und des öffentlichen Lebens soll der Kultureinfluss der Frauen zu voller innerer Entfaltung und freier äußerer Wirkung gebracht werden. Die dem entgegenstehenden Hindernisse, die aus persönlichen und sozialen Irrtümern sowie aus wirtschaftlichen Übelständen erwachsen, müssen durch unermüdliche Arbeit, durch den Einfluss gereifter, veredelter Persönlichkeiten und durch den unbeirrten Glauben an den endlichen Sieg des Guten und Wahren überwunden werden. Dabei darf aber niemals die historische Bedingtheit aller Lebensentwicklung außer Acht gelassen werden. Jedes klar erkannte Ziel des Fortschritts ist doch unter dem Gesichtspunkte zu betrachten, wie weit der Stand der Gesellschaftsverfassung augenblicklich die Annäherung ermöglicht.“[i]
Durch die „Erfüllung neuer Pflichten“ sollte der „Kultureinfluss der Frauen“ langfristig gesichert werden. Interessant ist, dass die Frauen des ADF von neuen Pflichten sprachen, von Aufgaben also, die den Frauen bisher nicht zugewiesen waren.
Die Ideen und die Strategie der Ortsgruppe basierten demnach auf einem Gesellschaftsentwurf, der die Rechte und Pflichten der Frau mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen in Übereinstimmung bringen wollte. Bildete das Haus zu Beginn des 19. Jahrhunderts den gemeinsamen Bezugspunkt der Geschlechter, so hatte sich dies nach der Meinung von Helene Bonfort zum Ende des Jahrhunderts grundlegend gewandelt. Der wachsende Einfluss des Staates, verbunden mit der zunehmenden Gestaltung des Lebens in der Öffentlichkeit sowie der abnehmenden Bedeutung der hauswirtschaftlichen Tätigkeiten für den Unterhalt der Familie führten zu einer Trennung der Geschlechter, die die Frauen einseitig benachteiligte. Insbesondere sei das traditionelle Modell des pater familias, der als das Oberhaupt der Familie diese grundsätzlich nach außen hin vertrete, angesichts der neuen Verhältnisse nicht mehr tragfähig.
Frauen sollten nicht nur ihre Person und ihr Eigentum selbstständig in der Öffentlichkeit vertreten können, sondern auch an der allgemeinen Entwicklung von Kultur und Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben. Da den Frauen eine grundsätzlich andere Natur als den Männern zugesprochen wurde, war es nur konsequent, zu denken, dass unter anderem die Hamburgerin Helene Bonfort schlussfolgerte, beide Geschlechter müssten einen eigenen Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft leisten. Deshalb sei die Gründung von Frauenvereinen notwendig, um Frauen vorzubereiten. Bonfort unterschied jedoch deutlich zwischen Staat und öffentlichem Leben bzw. Gesellschaft. Tätigkeitsbereich der Frauen sollte vorrangig die Gesellschaft, nicht der Staat sein. An diesem Punkt zeigten sich die Emanzipationsvorstellungen Bonforts ganz in den Grenzen des herrschenden Geschlechtermodells eingebunden: Der Staat war männlich und gehörte somit nicht in den weiblichen Bereich. Gleichzeitig aber bewertete sie den gesellschaftlichen Raum, in dem auch die Frauen ihre Pflicht zu erfüllen hatten, eindeutig höher als den Staat.
Mit dieser Einordnung der Rechte und Pflichten von Frauen stellte Bonfort sich und ihre Mitstreiterinnen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Fortschritts. Da die Kultur langfristig den Staat forme, sei die Arbeit der Frauen hier wertvoller als in den Ämtern des Staates, wobei ihre Ausführungen aber keine Absage an das Selbstvertretungsrecht der Frau im Staat beinhalteten. Auch die so genannten Gemäßigten wollten das Stimmrecht für Frauen – als zentrales Symbol für die Gleichberechtigung der Geschlechter – erreichen, allerdings erst nachdem Frauen mit ihren Vereinen gezeigt hätten, das sie dieses Recht auch verdienten.
n diesem Selbstverständnis scheiterte das wichtigste Ziel des ADF in Hamburg, nämlich der Mittelpunkt der Bewegung in Hamburg zu werden. Es waren jüngere Frauen, die die Ansichten der gemäßigten Richtung für nicht mehr zeitgemäß hielten und einen Bruch in der Einheit der Frauenbewegung provozierten. Schon 1899 wurde dieser Bruch durch den Austritt von Lida Gustava Heymann und anderen aus der Ortsgruppe des ADF markiert. Lida Gustava Heymann und ihre Mitstreiterinnen, die als Radikale bezeichnet wurden, gründeten zunächst ein „Comitee für Frauenbewegung“, das am 19.1.1900 zum Verein „Frauenwohl“ umbenannt wurde. Im Jahre 1901 hatte dieser Verein rund 90 Mitglieder, ein Jahr später waren es 104 und 1903 ca. 115. Diese wenigen Angaben zeigen schon deutlich, dass die Radikalen eher eine Minderheit in der Bewegung darstellten.
Was aber hatte zu dem Bruch geführt? Ohne Zweifel ist für Hamburg besonders auf die Persönlichkeit von Lida Gustava Heymann zu verweisen, die die Radikalen bis 1904 anführte. Lida Gustava Heymann war eine persönlich und ökonomisch unabhängige Frau, die sich zunächst in der privaten Wohltätigkeit engagierte und hier auch erhebliche private Mittel investierte. Sie gründete einen „Mittagstisch für Mädchen aller Stände“, einen Kinderhort sowie eine private Bade-Einrichtung, in der den Bewohnerinnen und Bewohnern der Innenstadt Wannen und Duschbrausen kostenfrei zur Benutzung überlassen wurden. 1897 kaufte sie dann ein Haus in der Paulstraße 25, dass fortan alle sozialen Einrichtungen in sich vereinte und später zu einem Zentrum der radikalen Frauenbewegung in Hamburg wurde. Allerdings hatte sich Lida Gustava Heymann in den Jahren 1898 bis 1901 immer stärker von der sozialen, ehrenamtlichen Arbeit distanziert, da sie zu der Auffassung gelangte, „daß private soziale Fürsorge niemals die trostlosen Zustände beseitigen kann, in denen achtzig und mehr Prozent aller Völker zu leben verdammt sind.“[ii]
Mit diesen Einsichten beschrieb sie ihren eigenen Weg von der ehrenamtlichen sozialen Arbeit zur politischen Tätigkeit. Ein Schritt dahin war ihre Beteiligung an der Gründung der Ortsgruppe des ADF, an deren Politik Lida Gustava Heymann aber bald Anstoß nahm. Ende 1898 hatte sich die Kontroverse zwischen Bonfort und Heymann zugespitzt, als auf der Generalversammlung des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF, gegründet 1894) in Hamburg eine scharfe Auseinandersetzung über die Frage entstand, welche Vereine zur Frauenbewegung gehörten und welche nicht. Als Folge der Debatte formierte sich der radikale Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung um Minna Cauer, Dr. Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, die darauf bestanden, dass sozialreformerische Vereine nicht als Frauenbewegung anzusehen seien und es zudem Aufgabe des BDF sei, einheitlich und entschlossen vorzugehen. Alle Frauen und Vereine, die dies anders sahen, gehörten von nun an zur so genannten gemäßigten Gruppe. Diese wiederum legte Wert auf eine heterogene Struktur der Frauenbewegung und wollte den BDF lediglich als Dachverband ohne irgendeine ,Richtlinienkompetenz‘ gegenüber den Einzelmitgliedern verstanden wissen.
Nach dieser Diskussion traten Lida Gustava Heymann, Charlotte Engel-Reimers und Martha Zietz aus der Ortsgruppe des ADF aus. Lida Gustava Heymann schilderte die entscheidende Situation in ihren Lebenserinnerungen: „Wahrlich, wir hatten uns nicht aus den Familienfesseln befreit, um uns von diesen alten Damen schulmeistern zu lassen, und als Helene Bonfort wieder einmal in einer Vorstandssitzung unseren Vorschlägen entgegentrat, erklärte ich, es sei bedauerlich, daß sie das Schulmeistern nicht lassen könne – sie war Lehrerin gewesen -, sie habe keine Schulklasse vor sich, sondern erwachsene Menschen, die alle gleichberechtigt seien. Sie wies meine Bemerkung als ungehörig zurück und beantragte die Aufnahme meiner Äußerungen in das Protokollbuch. Dieses kindische Benehmen gab mir Veranlassung, endlich zu tun, was ich schon lange vorhatte. Ich sagte den Damen, daß für mich kein Interesse bestehe, weiter mit ihnen in ihrem Damenkränzchen zu arbeiten, auf solche Weise komme man nicht zum Ziel.“[iii]
Sie gründeten einen neuen Verein. Der Zweck des neuen Vereins „Frauenwohl“ sollte „die öffentliche Vertretung und Förderung aller Fraueninteressen“ sein. Öffentliche Veranstaltungen, Mitgliedertreffen und die Gründung von Arbeitsausschüssen standen daher ebenso wie beim ADF auf dem Programm. Bemerkenswert ist, dass die „Erfüllung von Pflichten“ gegenüber der Gesellschaft im radikalen Verein eine ebenso zentrale Rolle spielte wie bei den Gemäßigten. In einem Flugblatt zur Mitgliederwerbung aus dem Jahre 1906 wurde dazu ausgeführt: „Der Verein ,Frauenwohl‘ erstrebt die völlige Gleichberechtigung der Frau auf allen Gebieten. Treu dem Grundsatz, daß, wer Rechte beansprucht, auch Pflichten zu erfüllen hat, will der Verein ,Frauenwohl‘ die Frauen in systematischer praktischer Arbeit schulen, ihren Blick für die sozialen Fragen unserer Zeit schärfen, und sie so zur Teilnahme an den Arbeiten in Staat und Kommune befähigen.“[iv] Im Vergleich mit den von Helene Bonfort ausgeführten Ideen zur Frauenemanzipation betonte der Verein „Frauenwohl“ jedoch die wichtige Funktion der Frau für die Gesellschaft, nicht die der Mutter.
Ein weiterer wichtiger Unterschied war die Forderung der Radikalen nach sofortiger staatlicher Gleichberechtigung aller Frauen, die die Gemäßigten erst nach einer Reihe von Pflichterfüllungen beanspruchen wollten. Ganz im Gegensatz zu den Gemäßigten unterschieden die Radikalen nämlich nicht zwischen Gesellschaft und Staat, sondern definierten den Staat als die entscheidende, neutrale und übergeordnete Institution, an der Frauen gleichberechtigt teilhaben sollten. Die gesellschaftlichen Aufgaben der Frauen konnten ihren geschlechtsspezifischen Wert daher nur über die staatliche Anerkennung bzw. die Gewährung von staatsbürgerlichen Rechten entfalten.
Diese Unterschiede in Taktik und Emanzipationsidee sollten jedoch nicht überbewertet werden. Aufbau und Arbeitsweise der beiden Gruppen, also die Alltäglichkeit des Vereinslebens, glichen sich auf erstaunliche Weise: Neben monatlichen oder wöchentlichen Diskutierabenden, in denen sich „die Frauen in der freien Aussprache unter Wahrung der parlamentarischen Form“ üben sollten, wurden regelmäßige öffentliche Veranstaltungen angeboten, die die Ideen des Vereins „Frauenwohl“ dem interessierten Publikum vermitteln sollten.
Zusätzlich übergab der Verein immer wieder Petitionen an Behörden, die Forderungen nach gleichberechtigter Teilnahme von Frauen an öffentlichen Ämtern zum Thema hatten. Der Verein „Frauenwohl“ gründete ebenso wie die Ortsgruppe eigenständige Abteilungen, die sozialpolitische oder propagandistische Aktivitäten entfalteten. Allerdings waren die Abteilungen nicht so erfolgreich wie diejenigen des ADF. Immerhin konnte aber aus der Abteilung für Erziehungs- und Schulwesen ein Reformschulprojekt auf den Weg gebracht werden, das allerdings 1905 schon wieder beendet werden musste. Auf zwei Gebieten jedoch waren die Radikalen effektiver: Zum einen in der „Sittlichkeitsarbeit“, aus der ein Hamburger Zweigverein der britischen kontinentalen und allgemeinen Föderation hervorging, zum anderen in der allgemeinen Frauenpolitik.
In diesem Feld landete der Verein seinen größten Coup, indem er 1902 die Gründung des „Deutschen Verein für Frauenstimmrecht“ ermöglichte. Hamburg hatte eine eher liberale Vereinsgesetzgebung, die einen Ausschluss von Frauen aus politischen Vereinen nicht kannte. Dies nahm Dr. Anita Augspurg zum Anlass, um den ersten Frauenstimmrechtsverein auf deutschem Boden zu gründen. Dieser Verein, der nach 1908 reichsweit agieren konnte und in Hamburg einen Zweigverein unterhielt, wurde zum neuen Zentrum der radikalen Bewegung. Nach 1906 wurde es im Verein Frauenwohl stiller. Zu dieser Entwicklung kam es, weil sich erstens Lida Gustava Heymann nach 1906 aus ihren Hamburger Verantwortlichkeiten zurückzog und nach München ging. Die radikale Hamburger Bewegung hatte damit ihre Gallionsfigur verloren. Der Gegensatz zum ADF blieb allerdings erhalten und wurde auch von den Nachfolgerinnen gepflegt. Zum zweiten entschieden aber die Mitglieder des Vereins „Frauenwohl“ 1909 ihren Verein zugunsten des Vereins „Frauenstimmrecht“ aufzulösen. In ihren Augen war das politische Wahlrecht der entscheidende Schritt auf einem Weg zur Gleichberechtigung für alle Frauen: „Als die Quintessenz des ,Frauenwohl‘ muß daher der Frauenstimmrechtsverein fortbestehen und seine Propaganda noch verstärken, während eine Auflösung des ,Frauenwohl‘ keine sentimentalen Tränen, sondern vielmehr ein Gefühl der Befriedigung hervorrufen muß, daß die mühsam geleistete Arbeit nicht vergebens sei, sondern lebensvolle, fortwirkende Anregungen geschaffen hat.“[III]
Insgesamt ist für die Jahre zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg festzuhalten, dass sich die Frauenbewegung in Hamburg prächtig entfaltete. Dies entsprach der Entwicklung im gesamten Deutschen Reich: überall, in kleinen und großen Städten, entstanden Frauenvereine, die soziale, kulturelle oder politische Ziele verfolgten und ihre Mitglieder für die eigenen Ziele schulten. Hamburg war aus dieser Perspektive keine Ausnahme, sondern eines von mehreren Zentren der Frauenbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Aufbauend auf einer differenzierten Kultur von Frauenvereinen etablierten sich hier ab der Mitte der 1890er Jahre die gemäßigten und radikalen Organisationen für Frauen, die sich dezidiert als Frauenbewegung verstanden. In diesen Vereinen wurden zwei traditionelle Schwerpunkte aufgenommen und modernisiert: die soziale Arbeit zum Ausgleich gesellschaftlicher Benachteiligungen und die Bildungsarbeit für Mädchen und Frauen. In beiden Bereichen konnte die Frauenbewegung in Hamburg große Erfolge erzielen. Drei neue Arbeitsschwerpunkte kamen aber hinzu. Zum einen die Rechtsschutzarbeit, zum zweiten die politische Werbung für das Frauenstimmrecht und schließlich die so genannte Sittlichkeitsarbeit. Mit diesen Themen betrat die Frauenbewegung Neuland in der Emanzipationsgeschichte der Frauen. Die Vereine klärten Frauen über ihre Rechte auf und verhalfen ihnen dazu, diese auch durchzusetzen. Nicht zuletzt aus dieser Tätigkeit resultierte dann die Forderung nach politischer Gleichstellung von Frauen und Männern im Wahlrecht. Diesen Prozess kann man auch bei den Gemäßigten verfolgen, zum Beispiel bei Julie Eichholz, die sich den Gemäßigten zurechnete, durch ihre Arbeit im Rechtsschutzverein aber deutliche Positionen als Frauenrechtlerin vertrat. Schließlich war die Auseinandersetzung mit der Prostitution in Hamburg ein neues, für Frauen gewagtes Thema. Sowohl die Radikalen wie auch die Gemäßigten versuchten hier Positionen zu entwickeln, die ihren gesellschaftspolitischen Ideen entsprachen: Jene wandten sich dezidiert gegen jede Form der Reglementierung und wollten auch die „Freier“ bestraft sehen, diese befürworteten eine reformierte Reglementierung unter staatlicher Aufsicht aus „hygienischen“ Gründen. In beiden Fällen aber gerieten die Vertreterinnen der Frauen hier besonders deutlich in Opposition zu staatlichen Vertretern (und manchen Männern) und sie kritisierten nachhaltig die gesellschaftliche Doppelmoral, die Männern sexuelle Kontakte erlaubte und Frauen nicht. Mit diesen neuen Arbeitsschwerpunkten reflektierte die Frauenbewegung die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert sehr kritisch – und sie bewirkte zugleich eine individuelle Emanzipation für all jene Frauen, die in den Vereinen aktiv arbeiteten.
Schließlich brachte das anbrechende Jahrhundert noch etwas Neues für die Frauenbewegung: einen eigenen Klub, in dem gesellschaftliche und künstlerische Veranstaltungen angeboten wurden. Ende 1906 wurde der „Frauenklub Hamburg e.V.“ eröffnet und bezog Räumlichkeiten am Neuen Jungfernstieg 19.
[i] Leben ist Streben. Bericht der Ortsgruppe Hamburg des ADF, 1896– 1907, Hamburg 1907, S. 7.
[ii] Hamburgischer Correspondent 10.11.1901: Zur Frauenfrage. Einst und jetzt, von Helene Bonfort
[III] Lida Gustava Heymann: Erlebtes – Erschautes, Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden 1850–1940, Meisenheim am Glan 1972, Frankfurt a. M. 1992, S. 68.
- Dieser Text ist ein Auszug aus: Rita Bake und Kirsten Heinsohn: „Man meint aber unter Menschenrechten nichts anderes als Männerrechte“, Hamburg 2012.
- Weitere Informationen: Frauenbiografiendatenbank Hamburg
Grundlegende Literatur:
Herrad-Ulrike Bussemer: Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungs- zeit, Weinheim-Basel 1985
Barbara Greven-Aschoff: Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894–1933, Göttingen 1981
Birgit Ebert: „Leichte Mädchen“, hohe Herren und energische Frauen. Die Hamburger Frauenbewegung im Kampf gegen Prostitution und Doppelmoral 1896–1908, in: Jörg Berlin (Hrsg.): Das andere Hamburg. Freiheitliche Bestrebungen in der Hansestadt seit dem Spätmittelalter, Köln 1982? S. 140–161
Kirsten Heinsohn: Politik und Geschlecht. Zur Politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg 1871– 1918, Hamburg 1997.
Helmut Stubbe-da Luz, Helmut: Die Stadtmütter Ida Dehmel, Emma Ender, Margarete Treuge, Hamburg 1994
Bildnachweise:
Abb. Titelfeld: Lida Gustava Heymann um 1900 (Ausschnitt), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1987-143-05,_Lida_Gustava_Heymann.jpg).
Abb. Thementext: Helene Bonfort, aus: https://www.hamburg.de/clp/frauenbiografien-schlagwortregister/clp1/hamburgde/onepage.php?BIOID=3158&dC=1800 / Modebroschüre um 1907, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_diverse / Lida Gustava Heymann um 1900, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1987-143-05,_Lida_Gustava_Heymann.jpg) / Frauenclub.