Anne Kriens
(Preisträgerin im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2014)
Ihren Rufnamen „Zitronenjette“ verdankte Henriette Johanne Marie Müller ihrer Arbeit, dem Handel mit Zitronen. Sie war eine der ersten Zitronenhändlerinnen in Hamburg und damit stadtweit bekannt. Der Handel mit Zitronen war Mitte des 19. Jahrhunderts noch etwas Besonderes. Zitrusfrüchte waren im Allgemeinen sehr teuer und galten als Zeichen des Wohlstandes. Henriette Müller kaufte am Morgen im Hafen die billigeren, oft schon leicht angefaulten Zitronen ein und verkaufte diese dann später für 5 Pfennig auf der Straße weiter. Häufig traf man sie am Graskeller (U-Bahn Rödingsmarkt) und am Rothenburgsort an. Henriette Müller litt unter einer Krankheit, bei der die Schilddrüsen zu wenig Thyroxin produzieren, was zu Kleinwuchs, Missbildungen und zu Lernverzögerungen führt. Dementsprechend war Jette sehr klein (1,32 m), hatte einen kräftigen Körperbau und eine knollige Nase in ihrem rundlichen Gesicht. Auch ihre Kleidung wirkte sonderbar. Meistens trug sie einen für Erwachsene viel zu kurzen Rock und darüber eine alte blaue Schürze. Dies geht aus verschiedenen Zeichnungen hervor, die zu ihren Lebzeiten gemacht wurden.
Auch wenn sie ein Hamburger Original war und ist, wurde Henriette Johanne Maria Müller am 18. Juli 1841 in Dessau geboren. Ihr Vater befürchtete wegen der Unehelichkeit des Kindes befürchtete betraft zu werden und verschwand noch vor der Geburt. Ihre Mutter Leopoldine Sophie Marie Müller zog daraufhin mit ihrer Tochter nach Hamburg, um hier Arbeit zu finden. Hier heiratete sie. Henriette hatte keine glückliche Kindheit. Sie schämte sich stets, ein uneheliches Kind zu haben und ihr neuer Mann wollte Jette nicht als sein eigenes Kind annehmen. Dazu kam Henriettes Erkrankung, die der Grund für Hänseleien war. Die Einzige, die zu Henriette hielt, war ihre Halbschwester Anna Reimers. Nach dem Tod der Eltern zogen beide in eine Wohnung im Teilfeld 56. Mit dem Verkauf von Zitronen verdiente Henriette ein wenig Geld dazu, lebte allerdings hauptsächlich von dem Einkommen ihrer Schwester, die als Wäscherin arbeitete.
Von Morgens bis Abends bot sie ihre Zitronen feil. Wenn gegen Abend nicht alle Zitronen verkauft waren, klapperte sie mit ihrem Korb die Kneipen auf St. Pauli ab. Dabei machten sich die jungen Männer einen Spaß daraus, sie betrunken zu machen und sich dann an ihrem Zustand zu erheitern. Schnell wurde Jette alkoholabhängig. Auch tagsüber torkelte sie nun, zur Freude der Kinder, durch die Straßen. Sie liefen hinter Jette her und ärgerten sie, bis Jette sie mit fauligen Zitronen bewarf oder ihre Röcke raffte, um ihnen ihren blanken Hintern entgegen zu strecken. Der übermäßige Alkoholkonsum blieb nicht lange unbemerkt. Ihre Aufenthalte in Ausnüchterungszellen der Polizeiwachen wurden immer häufiger.
Am 13. August 1894 wurde Henriette wegen „Erregen öffentlichen Ärgernisses“ in die Irrenanstalt Friedrichsberg eingewiesen. Dort machte sie einen kalten Entzug. Weil es die Diagnose ihrer Schilddrüsenerkrankung noch nicht gab, wurde ihr „leichter Schwachsinn“ attestiert und sie wurde in die offene Anstalt aufgenommen. Hier wurde sie mit leichten Küchenaufgaben beschäftigt. Am 8. Juli 1916 starb Henriette Müller. Das war für viele Hamburger überraschend, da ihre Einweisung in die Anstalt nicht öffentlich gemacht wurde. Man ging davon aus, dass die Zitronenjette schon vor Jahren an ihrem übermäßigen Alkoholkonsum gestorben sei.
Vieles was heute über die Zitronenjette bekannt ist, stammt von Paul Möhring, der 1940 ein Theaterstück zur Zitronenjette verfasste und zusätzlich ihr Leben erforschte. Allerdings weiß man heute, dass er die Geschichte der Zitronenjette umgestaltete. Lange Zeit war sein Werk die einzige Quelle über die Zitronenjette. Heute begegnet man der Zitronenjette nur noch an wenigen Orten in der Stadt. Nicht weit vom Hamburger Michel erinnert eine unauffällige Statue an sie. Im „Garten der Frauen“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof steht ein Gedenkstein, den sich Jette allerdings mit der Vogeljette, einer Witwe, die mit Spatzen sprach, teilt. Henriette Müller gilt als ein Hamburger Original, doch genau wie beim Hummel, steht bei der Zitronenjette die Originalität nicht für Erfolg, sondern für ein tristes Außenseiterdasein. Durch die Verbindung von Unehelichkeit, Armut und Behinderungen in einer Person war die Zitronenjette an den Rand der Gesellschaft verbannt.
Literatur:
Bake, Rita und Reimers, Britta: So lebten Sie! Spazieren auf den Wegen von Frauen in Hamburgs Alt- und Neustadt, Hamburg 2003, S. 168f.
Gottwald, Claudia: Lachen über das Andere. Eine historische Analyse komischer Repräsentationen von Behinderung, Bielefeld 2009, S. 147-150.
Koch, Rudolf: Ein Hamburger Original: die „Zitronenjette“, in: Vun düt un dat un allerwat ut Hamborg. Verein der Hamburger e.V. Hamburg (2004, Nr. 4), S. 12f.
Möhring, Paul: Zitronenjette. Volksstück um ein Hamburger Original in 3 Akten, Hamburg 1940.
Möhring, Paul: Drei Hamburger Originale, Hamburg 1965.
Redetzki, Joachim: Tausendfache Zitronenjette. Paul Möhring und das Hamburger Theater, Husum 1985.
Bildnachweise:
Abb. Titelfeld: Zitronenjette (kolorierte Zeichnung, Ausschnitt), Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_287-07.
Abb. Zeitgenossentext: Zitronenjette (kolorierte Zeichnung), Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_287-07.