Reiner Lehberger
Neue Schule für die neue Zeit
Am 12. November 1918, sechs Tage nachdem ein Arbeiter- und Soldatenrat auch in Hamburg die alten Machtverhältnisse des Kaiserreiches für beendet erklärt hatte, kamen im Curio-Haus, dem Vereinshaus der „Gesellschaft der Freunde“, nahezu 3.000 Lehrerinnen und Lehrer zusammen, um ihre schulpolitischen Forderungen an die neue Republik zu artikulieren.
Unter der Leitung bekannter Hamburger Schulreformer wie William Lottig, Heinrich Wolgast, Carl Götze und anderen kam die Versammlung bei – allerdings bald widerrufener – Zustimmung der Oberlehrerschaft zu folgendem Forderungskatalog:
„1. Wir fordern ein Reichsschulgesetz […] 2. Wir fordern die Einheitsschule […] 3. [Wir fordern] Selbstverwaltung der Schule unter Beteiligung der Eltern […] 4. [Wir fordern] Glaubens- und Gewissensfreiheit für Lehrer und Kind.“[1]
Wenn auch keineswegs alle diese Forderungen verwirklicht wurden, so kam es doch zu zahlreichen und tiefgreifenden Veränderungen im Hamburger Schulwesen. Noch unter dem Arbeiter- und Soldatenrat wurde zum 1.1.1919 der Religionsunterricht an Hamburger Schulen abgeschafft, die Eltern wurden an der Schulverwaltung beteiligt und zum April 1919 die Schulleiterwahl durch die Lehrerkollegien festgesetzt. Nach der Beendigung der Räterepublik und der Übernahme des Senats durch eine sozialdemokratisch-linksliberale Mehrheit wurden am 16.5.1919 das Einheitsschulgesetz und am 12.4.1920 das Gesetz über die Selbstverwaltung der Schulen beschlossen. (…) Im Kern wurde durch diese Gesetze zum ersten Mal in der deutschen Bildungsgeschichte eine für alle verbindliche allgemeine vierjährige Grundschule eingeführt. Das 1919 verfügte Verbot des Religionsunterrichts konnte jedoch nicht aufrechterhalten werden. Es widersprach der Weimarer Verfassung und musste zum 16.12.1920 wieder rückgängig gemacht werden. Allerdings bewirkte die damit einhergehende Einführung einer „positiven Willenserklärung“ der Erziehungsberechtigten, dass an Schulen, an denen keine Kinder zum Religionsunterricht angemeldet wurden, dieser auch nicht stattfinden musste. Von den vielfältigen Reformen des Schulwesens war insbesondere das Selbstverwaltungsgesetz vom 4. April 1920 bedeutend.
Es beinhaltete, dass die Schule vom Lehrkörper und vom Elternrat verwaltet wurde, der Schulleiter durch das Lehrerkollegium und Vertreter der Eltern gewählt und (nach drei Jahren) wieder abgewählt werden konnte, und es machte die Kollegiumsbeschlüsse für alle, auch für den Schulleiter, verbindlich.
In den zwanziger Jahren gelangten erstmals auch Frauen in herausragende schulische Positionen. 1923 wurde Dora Christiansen erste Schulrätin, 1927 die Frauenrechtlerin Emmy Beckmann Oberschulrätin und 1929 Olga Essig Oberschulrätin in der Berufsschulbehörde. Nicht zuletzt erreichten Emmy Beckmann und Olga Essig, dass – mit einer Ausnahme – alle höheren Mädchenschulen und alle allgemeinen Mädchenberufsschulen von Frauen geleitet wurden.
Zusätzlich wurden annähernd vierzig neue Schulen gebaut, fast alle von dem Oberbaudirektor Fritz Schumacher geplant, 1919 die Hamburger Universität und die Volkshochschule gegründet, 1925 das Institut für Lehrerfortbildung eingerichtet und 1926 die akademische Lehrerausbildung für Volksschullehrer an der Universität eingeführt.
In den Krisenzeiten von 1923/24 und 1929-33 trafen die Einsparungsprogramme nicht zuletzt auch die Schule und die Lehrerschaft. 1923/24 gab es einen Stellenabbau bei der Lehrerschaft von 627 Stellen, wobei hiervon insbesondere die Junglehrer und verheirateten Lehrerinnen betroffen waren. 1925 wurde der Stellenabbau wieder eingestellt, und es begann ein rascher Abbau der Lehrerarbeitslosigkeit. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 wurden jedoch erneut Sparmaßnahmen notwendig. Die Klassenfrequenzen wurden auf 36 Schüler hochgesetzt, Pflichtstunden wurden erhöht und Lehrer, d.h. insbesondere wiederum verheiratete Lehrerinnen und Junglehrer, entlassen.
Als eine einschneidende Maßnahme für das höhere Schulwesen muss die neue Zugangsregelung zu den höheren Schulen gesehen werden, das so genannte Ausleseverfahren. Durch Ausleseausschüsse ausgewählt und im gesamten Stadtgebiet vereinheitlicht, konnten nun alle befähigten VolksschülerInnen auf die höheren Schulen wechseln. Das Schulgeld wurde nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt. Am Ende der Mittelstufe betrug die „Versagerquote“ im Durchschnitt der zwanziger Jahre 60 %.
Dennoch, bedingt durch das neue Ausleseverfahren und den Rückgang von Privatschulen, stieg die Gesamtschülerzahl an den höheren Knabenschulen von 7.733 im Jahre 1915 auf 12.546 im Jahre 1925. Die Zahl der höheren Jungenschulen erhöhte sich ebenfalls.
Als Fördermaßnahme für begabte Volksschülerinnen und -schüler wurde bereits 1920 als erste im Reich eine Aufbauschule in Hamburg eingerichtet. Nach der 8. Volksschulklasse konnte man hier, und zwar Jungen wie Mädchen, in sechs Schuljahren das Abitur machen.
Als eine neue Schulform im höheren Schulwesen wurde in der Weimarer Republik die Deutsche Oberschule (mit Schwerpunkt auf den deutschkundlichen Fächern) eingeführt. Die Form der Deutschen Oberschule übernahmen die Aufbauschule, der Deutsche Zug am Wilhelm-Gymnasium und die Lichtwarkschule.
Bis 1933 entwickelte sich die Lichtwarkschule dabei zu einer der berühmtesten Reformoberschulen im Deutschen Reich. Ihr erster Schulleiter war Peter Petersen, der letzte demokratisch gewählte war Heinrich Landahl, nach 1945 langjähriger Schulsenator in der Hansestadt. Ab 1925 wurde die Schule koedukativ geführt, man hatte die Fächer Deutsch, Geschichte, Religion im Kulturkundeunterricht fachübergreifend zusammengefasst und legte einen besonderen Schwerpunkt auf die ästhetisch-musische sowie die körperliche Erziehung (tägliche Turnstunde). Darüber hinaus bot die Lichtwarkschule einen Arbeiter-Abiturientenkurs für junge Erwachsene an.
Das höhere Mädchenschulwesen nahm nach 1918 ebenfalls einen kräftigen Aufschwung, nicht zuletzt auch durch den ökonomisch bedingten Rückgang der privaten Schulen. 1932 gab es sieben staatliche Schulen und das staatliche Fröbelseminar sowie je eine höhere Mädchenschule in Cuxhaven und Bergedorf. Typenmäßig waren vertreten die Realschule, das Realgymnasium, die Oberrealschule und die Deutsche Oberschule.
Das Volksschulwesen
Um die innere Schulreform voranzutreiben, war den Volksschulen nach 1919 freigestellt, nach eigenen Lehrplänen zu unterrichten. Die Eigeninitiative der Kollegien war gefordert, die Schülerselbsttätigkeit und eine Pädagogik „vom Kinde aus“ als Leitlinien benannt. Besondere Förderung erhielten die ästhetischen und technischen Fächer.
Werkunterricht wurde verpflichtend, Hilfsmittel für die Einrichtung von Schulwerkstätten wurden den Schulen durch die Behörde zugeteilt. Getragen wurden diese neuen pädagogischen Ideen von einer dafür in ihrer Mehrheit aufgeschlossenen sowie demokratisch gesinnten und republikbejahenden Lehrerschaft. Strukturell wurde die Volksschule durch die Erhöhung der Schulpflicht von 7 auf 8 Jahre sowie durch die bereits erwähnte Institutionalisierung der vierjährigen Grundschule verändert. Eine besondere Aufwertung erhielt die Volksschule auch durch die 1926 eingeführte akademische Ausbildung der Volksschullehrerschaft an der Universität.
Weit über Hamburg hinaus fanden die 1919 bzw. 1920 gegründeten vier Versuchsschulen im Volksschulwesen Beachtung: Die Schulen Berliner-Tor (St. Georg), Breitenfelder Straße (Eppendorf), Telemannstraße (Eimsbüttel), Tieloh-Süd (Barmbek).
Alle konnten Schüler aus allen Stadtteilen aufnehmen. Als pädagogische Übereinstimmung galt: Verzicht auf die Prügelstrafe und – zumindest am Anfang der zwanziger Jahre – auf das Sitzenbleiben; Betonung des Gesamtunterrichts in der Primarstufe; ganzheitliches Lernen mit „Kopf, Herz und Hand“; Schaffung eines besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Schülern, Eltern und Lehrern; Zusammenführung aller an der Schule Beteiligten zur „Schulgemeinde“; Ausweitung der Schule zu einer „Lebensstätte der Jugend“. Allen Schulen war gemeinsam, dass sie – wie die Lichtwarkschule auch – politisch stark umstritten waren und von der politischen Rechten wiederholt heftigst attackiert wurden.
Das Hilfsschulwesen wurde in den zwanziger Jahren von 9 auf 12 Schulen ausgebaut, bei den Sonderschulen wurden zwei Schulen für „Sprachkranke“ neu eingerichtet. Der Blindenschule wurde 1922 eine Sehschwachenschule angegliedert. Neue Richtlinien für die Hilfsschule, zwischen 1928 und 1930 an allen Schulen erprobt, standen 1932/33 kurz vor der endgültigen Einführung, wurden unter den neuen Machthabern nach 1933 aber nicht weitergeführt.
Das berufliche Schulwesen
Durch die 1919 gesetzlich eingeführte dreijährige Berufsschulpflicht erlebte das Berufsschulwesen der Hansestadt einen großen Aufschwung. Bis zum Ende der Republik wurden vier neue Schulgebäude und neun große Erweiterungsbauten errichtet.
Hatte es 1919 noch keine Lehrwerkstatt gegeben, so waren es 1933 rund 90. Über diese rasante Entwicklung schrieb Johannes Schult, langjähriger Oberschulrat in der Berufsschulbehörde, das berufliche Schulwesen Hamburgs überträfe „in seiner Lückenlosigkeit, seiner Gliederung, der Ausbildung seiner Lehrkräfte, der Zahl der wöchentlichen Schulstunden [acht pro Woche, R.L.], der Ausrüstung mit Werkstätten, Brausebädern, Festsälen, Turnhallen und seiner reichen Jugendpflege fast alle anderen deutschen Großstädte und wurde in den Fachkreisen als glänzendes Vorbild anerkannt“.
Alle Texte sind Auszüge aus: Lehberger, Reiner; deLorent, Hans-Peter: Schulen in Hamburg – Ein Führer durch Aufbau und Geschichte des Hamburger Schulwesens, Hamburg 2012.
Zitate:
[1] Pädagogische Reform (42) 1918, Nr. 47, S. 230 f.
Grundlegende Literatur:
Milberg, Hildegard: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890-1935. Hamburg 1970.
Lehberger, Reiner: „Schule als Lebensstätte der Jugend“. Die Hamburger Versuchs- und Gemeinschaftsschulen in der Weimarer Republik. In: Amlung, Ullrich et al. (Hg.): „Die alte Schule überwinden“. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1993.
de Lorent, Hans-Peter; Ullrich, Volker (Hg.): „Der Traum von der freien Schule“. Schule und Schulpolitik in Hamburg während der Weimarer Republik. Hamburg 1988.
Rosenfeldt, Jenspeter: Lehrerarbeitslosigkeit in der Weimarer Republik. In: de Lorent; Ullrich 1988, S. 167-178.
Umlauf, Karl (Hg.): Das hamburgische Schulwesen. I. Gesetzgebung und Verwaltung. Hamburg 1931.
Bildnachweise:
Abb. Titelfeld: Volksschule Schaudinnsweg 1929 (Ausschnitt), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HANSif426_Schule_Schaudinnsweg.jpg?uselang=de).
Abb. Thementext: Giebelfeld Curio-Haus, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Curio-Haus?uselang=de#/media/File:1150_Hamburg_Rothenbaumchaussee_11-17_(7).jpg) / Anstellungsurkunde Emmy Beckmann, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anstellungsurkunde_f%C3%BCr_Emmy_Beckmann.jpg) / Fritz Schumacher (Zeichnung von Leopold von Kalkreuth), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schumacher_Fritz_Radierung_Kalckreuth_1916.jpg?uselang=de) / Altbau Wilhelm-Gymnasium, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Staatsbibliothek_Hamburg-Altbau.JPG) / Lichtwarkschule, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hamburg.Winterhude.Heinrich-Hertz-Schule.wmt.jpg) / Turnhalle Schule Uferstraße, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HANSif462_Schule_Uferstra%C3%9Fe.jpg?uselang=de) / Zeichensaal Schule Schaudinnsweg, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:HANSif443_Schule_Schaudinnsweg.jpg?uselang=de) / Schule Tieloh-Süd, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schule_Tieloh_R%C3%BCckseite2.jpg) / Berufsschule Angerstraße, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Angerstra%C3%9Fe_4_(Hamburg-Hohenfelde).ajb.jpg?uselang=de).