Der Arbeitersport in Hamburg

Von Werner Skrentny

„Russenspiel“ und drei Spielmannszüge in einem Ort

Hamburg kann auf eine auch überregional bedeutende Sportgeschichte zurückblicken. Erinnerungsorte im Stadtbild zum Sport sucht man allerdings vergebens. Denn die Senate, gleich welch’ politischer Couleur, zeichnete vor allem eines aus: Desinteresse. Immerhin, Hamburgs monumentalstes Denkmal am Elbhang überm Hafen, gewidmet Bismarck, hat mit unserem Thema Arbeitersport zu tun. Denn der Reichskanzler initiierte die von 1878 bis 1890 gültigen Sozialistengesetze, nach denen Sozialdemokraten als „Reichsfeinde“ galten.  Das galt auch für deren Anhänger bzw. Arbeiter, die Sport treiben wollten. Die deutschnationale, kaisertreue und schließlich antisemitische Deutsche Turnerschaft (DT) kam dafür nicht infrage. So bildeten sich trotz Sozialistengesetz regional ohne reichsweiten Rückhalt Arbeiter-Turnvereine.

Die Freie Turn- und Sport-Vereinigung (FTSV) in Wandsbek entstand bereits 1881 (und heißt heute Wandsbeker TSV Concordia). In Bergedorf gründete sich 1885 der Allgemeine Turn-Verein (ATV), als Proletarier bei Bürgern nicht mehr als Mitturner gelitten waren. Dies traf auch auf Harburg 93 zu.  Ein reichsweiter Dachverband, der Arbeiter-Turn-Bund (ATB), entstand 1893 unter Mitwirkung von Wandsbek 81, Hinschenfelde 1890 und Harburg 93 (sämtlich Preußen!) in Gera. SPD und Gewerkschaften standen diesem Projekt skeptisch gegenüber; Sie fürchteten, der ATB würde „Kampfkraft abziehen“.

Die junge Organisation sah sich in Hamburg von Anfang an Schikanen ausgesetzt. Überwacht von der Politischen Polizei, angefeindet in der Hamburger Bürgerschaft und von der bürgerlichen Presse („Übungstruppen der staatsfeindlichen Sozialdemokratie“). Jugendliche bis 18 Jahre durften nicht aufgenommen werden, öffentliche Turnhallen und Sportplätze blieben den Vereinen verschlossen. „Hamburg ist in Wirklichkeit reaktionärer als das ostelbische Junkertum“ (SPD-Bürgerschaftsabgeordneter Meyer).

Notgedrungen griff man zur Selbsthilfe: der ATV Barmbek errichtete beim Stadtpark eine kleine Turnhalle, über deren Eingang zu lesen war: „Einigkeit macht stark!“ Mit 167.662 Mark, natürlich ohne Staatszuschüsse, finanzierte die FT Hammerbrook-Rothenburgsort eine Turnhalle samt vierstöckigem Wohnhaus.

Erst 1914, als der Kaiser bekanntlich keine Parteien mehr kannte und der ATB sich im Ersten Weltkrieg „zur schweren unabänderlichen Pflicht“ bekannte, öffneten sich

die Staatlichen Sportstätten den Arbeitersportlern. Als die FT Barmbek-Winterhude 1915 Ausmarsch und Geländeübung zwecks vormilitärischer Ausbildung ankündigte, lautete der polizeiliche Bescheid: „Keine politischen Bedenken.“

Bekenntnis zur Weimarer Republik: Großplakat für die Verfassungsfeier 1930 auf dem Hamburger Flugplatz

In der Weimarer Republik öffnete sich der 1919 umbenannte Arbeiter- Turn- und Sport-Bund (ATSB) auch anderen Sportarten, vor allem dem Fußball. Aus heutiger Sicht könnte man das Programm als „Breitensport“ bezeichnen. Rekordjagd, „Nationenrummel“, „die blöde Anhimmelung von Sportskanonen“ wurden abgelehnt (weshalb die Aktiven noch lange namenlos blieben!). Fairness sollte vor dem Erfolg rangieren.

Zugute kam dem Arbeitersport, dass die SPD bis 1933 Regierungspartei in Hamburg war (in Koalitionen mit der liberalen DDP, später auch der Rechtspartei DVP).

 

Neben Partei und Gewerkschaften galt der ATSB als „Säule der Republik“. Die Zentralkommission für Körperpflege zählte 1928 1.2 Mio. Mitglieder, darunter ATSB (770.000), RKB Solidarität, Naturfreunde u. a. m. In Hamburg gab es Ende 1929 22.000 Mitglieder, womit der bürgerliche Sport immer noch tonangebend war, wenn auch dessen Zahl von einer Mio. als „geschönt“ gilt.

Insbesondere fußballerische Großereignisse hatten in Hamburg beachtliche Resonanz. 1927 sahen im Stadion Hoheluft des SC Victoria ca. 25.000 das Länderspiel ATSB gegen Sowjetunion (die kein Mitglied des Weltfußball-Verbandes FIFA war), ein sog. „Russenspiel“. NDR-Vorgänger NORAG schaltete sich allerdings aus, als das 400 Mann starke Trommler- und Pfeifer-Korps die „Internationale“ spielte.

Zweimaliger Fußball-Bundesmeister: der SC Lorbeer 06 aus Rothenburgsort. Stehend 3. v. l. Erwin Seeler, Vater von „Uns Uwe“, 4. v. l. August Postler, im Widerstand und 1934 in der Haft umgekommen

Der zweimalige Fußball-Bundesmeister (= Deutscher Meister) SC Lorbeer 06 Rothenburgsort zählte im Endspiel 1931 bei Victoria gegen Pegau (Sachsen) 20.000 Zuschauer – mehr als der HSV, der zeitgleich im Volkspark im Altonaer Stadion spielte. Mittelstürmer von Lorbeer war Erwin Seeler, „Vadder“ des heutigen Hamburger Ehrenbürgers Uwe Seeler. Auch der Onkel Alfons von „Kaiser Franz“ Beckenbauer spielte (in München) im Arbeitersport.

Die Bauern halfen den Arbeitern: Mitglieder von Ottensen 93 auf dem Weg zur II. Arbeiter-Olympiade 1931 nach Wien

Außerordentliche internationale Ereignisse gab es mit den Arbeiterolympiaden, deren II. 1931 in Wien stattfand. Hamburger Teilnehmerinnen und Teilnehmer reisten dorthin u. a. im Sonderzug, mit einem Zweieinhalb-Tonner, ja sogar mit dem Fahrrad.

Das Bekenntnis des ATSB (Beitritt zur „Eisernen Front“) zur Weimarer Republik führte zur Spaltung auch des Arbeitersports. Die KPD lehnte die gemeinsam mit den bürgerlichen Vereinen getragenen, wenn auch getrennt nach Tagesprogramm veranstalteten, „Senatssportwochen“ ab. „Kein Arbeiter beteiligt sich am Verfassungsrummel!“ – so die Parole der kommunistischen „Hamburger Volkszeitung“.

Die KPD initiierte erst die „Interessengemeinschaft zur Herstellung der Einheit im Arbeitersport“ (kurz: IG), später die „Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit“ (kurz: Rotsport). Beide Organisationen fanden auch in Hamburg Resonanz, wobei das Verhältnis der Mitgliederzahl 3:1 bzw. 4:1 zugunsten des ATSB gelautet haben mag. Jedenfalls gab es spektakuläre Ausschlüsse wie den des VfL 05 (heute VfL 93) aus Winterhude, der mit der Begründung: „Weil der gesamte Verein von der Fraktionsarbeit der KPD verseucht ist“, aus dem ATSB ausgeschlossen wurde. Das brachte den VfL in die Bredouille, denn noch hatte Rotsport keinen Ligen-Betrieb organisiert. So trat man sogar gegen einen DFB-Verein an und kehrte schließlich zum ATSB zurück. Im Übrigen galt nun wieder wie im Kaiserreich in Hamburg teilweise ein behördliches Sportstätten-Verbot, diesmal für die Rotsportler.

Rotsport 1931 im Altonaer Stadium

Eine furchtbare Folge der Auseinandersetzung beider Arbeiterparteien bedeutete der Tod des 15 Jahre jungen Schuhmacher-Lehrlings Berthold Staudt aus Ottensen. Er kam bei einer ATSB-Großkundgebung im Hamburger Gewerkschaftshaus bei einer Saalschlacht mit Rotsportlern ums Leben. „Die roten Brüder prügeln sich“, spottete die bürgerliche Presse.

Die Spaltung ließ sich auch in damals eher ländlichen Orten nachvollziehen: In Berne bestanden drei Spielmannszüge – einer vom FTSV, einer vom Reichsbanner (SPD), ein weiterer der KPD.

Als die Nationalsozialisten 1933 unter Mitwirkung sog. bürgerlicher Parteien auch in Hamburg die Macht übernahmen, wurde nicht mehr zwischen ATSB und Rotsport unterschieden: Das Verbot galt für alle Vereine.

Insbesondere die kommunistischen Sportler gingen in den Widerstand. Sie wurden verfolgt, gefoltert, ermordet. Nach Ende der Diktatur gab es nach 1945 keinen gesonderten Arbeitersport-Verband mehr, alles wurde in den Deutschen Sport-Bund überführt, der sich nicht gesondert dem Sport der arbeitenden Bevölkerung widmete.

Aber 701 heutige Vereine, davon 28 in Hamburg, gehen auf den Arbeitersport zurück.

 

 

Ausgewählte Literatur

Arnold, Patricia / Niewerth, Dagmar: „Heraus Genossen! Die Arbeitersportbewegung in Altona von 1893 bis 1933. In: Arnold Sywottek (Hg.): Das andere Altona. Hamburg 1984.

Dies.: Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Altona von 1893 bis 1933. Hamburg 1983.

Diercks, Herbert: Hamburger Fußball im Nationalsozialismus. Einblicke in eine jahrzehntelang verklärte Geschichte. Hamburg 2016.

Frommhagen, Rolf: Die andere Fußball-Nationalmannschaft. Bundesauswahl der deutschen Arbeitersportler 1924 bis 1933. Göttingen 2011.

Ders.: Im Fußballhimmel? Blick in eine andere Fußballwelt. Die Deutschen Meisterschaften der Arbeitersportler 1920-1933. Göttingen 2019.

Havekost, Folke / Stahl, Volker: „Die Olympiasieger von der Allee“: Die Geschichte des SC Teutonia 1910 aus Altona. Göttingen 2019.

Makus, Christian: Die Arbeitersportbewegung in Hamburg 1928-1933. Hamburg 1989

Skrentny, Werner: „Die Solidarität war ja überall!“, in: Projektgruppe Arbeiterkultur Hamburg, Vorwärts und nicht vergessen. Arbeiterkultur in Hamburg um 1930. Berlin 1982.

Ders.: „Als Lorbeer noch Deutscher Meister war“, in: Hamburger Fußball-Verband (Hg.), 100 Jahre Fußball in Hamburg, Hamburg 1994.

Ders.: Vergessene Fußballgeschichte. In: Gerhard Fischer, Ulrich Lindner, Stürmer für Hitler. Göttingen 1999.

Ders.: Die andere Natiolalmannschaft. Arbeitersportler am Ball, in: Gerhard Fischer, Ulrich Lindner, Stürmer für Hitler. Göttingen 1999.

In: Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.): Die Geschichte der Fußball-Nationalmannschaft. Göttingen 2004.

www.arbeiterfussball.de

 

Bildnachweise:

Abb. Titelfeld: Zweimaliger Fußball-Bundesmeister: der SC Lorbeer 06 aus Rothenburgsort (Ausschnitt). Stehend 3. v. l. Erwin Seeler, Vater von „Uns Uwe“, 4. v. l. August Postler, im Widerstand und 1934 in der Haft umgekommen (Archiv Projektgruppe Arbeiterkultur).

Abb. Thementext: Bekenntnis zur Weimarer Republik: Großplakat für die Verfassungsfeier 1930 auf dem Hamburger Flugplatz (Staatsarchiv Hamburg) / 20.000 auf der Hoheluft: Werbung im „Hamburger Echo“ für das Endspiel 1931 (Archiv Projektgruppe Arbeiterkultur) / Zweimaliger Fußball-Bundesmeister: der SC Lorbeer 06 aus Rothenburgsort. Stehend 3. v. l. Erwin Seeler, Vater von „Uns Uwe“, 4. v. l. August Postler, im Widerstand und 1934 in der Haft umgekommen (Archiv Projektgruppe Arbeiterkultur) / Die Bauern halfen den Arbeitern: Mitglieder von Ottensen 93 auf dem Weg zur II. Arbeiter-Olympiade 1931 nach Wien (Festschrift 75 Jahre Ottensen 93, 1968) / Rotsport-Fest 1931 im Altonaer Stadion, am Ort des heutigen Volksparkstadions (Archiv Projektgruppe Arbeiterkultur).