Die Karte zeigt Stätten und Lokale des „Chinesenviertels“ der 1920er und 1930er Jahre. Lokale sind mit grünen Pins, Geschäfte mit schwarzen und Gedenkorte mit orangenen Pins gekennzeichnet.
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Der nördlichste Ort in der Karte ist der Friedhof Ohlsdorf, der südlichste das „Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg“.
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Karte: Heiko Friedrich; Texte: Lars Amenda
Chinesische Seeleute
Ab Mitte der 1920er Jahre sprach die Hamburger Bevölkerung von einem „Chinesenviertel“ in St. Pauli. Die Vorgeschichte reicht einige Jahrzehnte zurück und ist eng mit der Schifffahrt und dem Betrieb des Hafens verbunden. Seit 1889 musterten deutsche Reedereien wie die HAPAG aus Hamburg und der Norddeutsche Lloyd aus Bremen „farbige Seeleute“, wie sie damals hießen, für ihre Dampfschiffe an. Die schrittweise Umstellung von Segel- auf Dampfantrieb ab Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte die maritime Arbeit und befeuerte buchstäblich die frühe Globalisierung im Zeichen des Kolonialismus. Der koloniale, „weiße“ Blick auf China erklärte chinesische Arbeitskräfte zu „Kulis“ – günstige und vermeintlich unpolitische Arbeitskräfte. Dazu trug auch maßgeblich die chinesische Arbeitsmigration in die USA ab Mitte des 19. Jahrhunderts bei, die in Europa aufmerksam registriert wurde.
Deutsche Reedereien warben chinesische Heizer und Trimmer (Kohlenzieher) zumeist in Hongkong an und bezahlten ihnen deutlich geringere Heuern als deutschen Seeleuten. Die „Chinesen“ stammten folglich zumeist aus den umliegenden Bezirken Hongkongs und sprachen kantonesisch. Sie erhofften sich von einer mehrjährigen Beschäftigung auf See, ihre Familien finanziell zu unterstützen und mit dem ersparten Geld in ihre südchinesische Heimat zurückzukehren. Rund 3000 chinesische Seeleute fuhren um 1900 auf deutschen Handelsschiffen, bei insgesamt 50.000 in der Seeschifffahrt Beschäftigten.
Sozialdemokratische Vertreter attackierten die ungleiche Bezahlung, übernahmen dabei teilweise auch rassistische Stereotypen wie der Vorsitzende der Seeleutegewerkschaft Paul Müller aus Hamburg, der 1909 in seiner Kampfschrift „Seid Männer, keine Memmen!“ vor einem „Massenimport farbiger Kulis“ warnte. Einer solchen Warnung bedurfte die Hamburger Polizei keineswegs. Die Hafenpolizei überwachte die chinesischen und anderen nichteuropäischen Seeleute im Hafengebiet ohnehin sehr aufmerksam. Nach der Choleraepidemie 1892 entfaltete sich ein mächtiger Hygiene-Diskurs, der zur Errichtung eines kolonialen Hafenregimes beitrug. Die Hamburger Polizei verhinderte vor diesem Hintergrund gezielt eine nennenswerte chinesische Einwanderung und erlaubte sie nur in Einzelfällen, beispielsweise bei einer 1910 von der HAPAG angeworbenen kleinen Gruppe chinesischer Wäscher.
Der Beginn des Ersten Weltkrieges kappte die globalen Verbindungen Hamburgs schlagartig. Auf mehreren Dampfschiffen saßen chinesische Crews im Hafen fest wie auf dem HAPAG-Dampfer „Imperator“ nahe der Vulkan-Werft. Nach Ende des Krieges geschah jedoch genau das, was die Hamburger Polizei zuvor unbedingt verhindern wollte. „Seit 1919“, vermerkt ein Polizeibericht von 1922, „ziehen Chinesen niederen Standes hier in ständig wachsender Zahl zu.“ Die Hamburger Polizei forschte genau nach und fand heraus, dass insbesondere aus den englischen Hafenstädten London und Liverpool chinesische Seeleute nach St. Pauli kamen, um hier ein eigenes Lokal oder Geschäft zu eröffnen.
Wer der erste chinesische Pionier in Hamburg war, bleibt im Dunkeln. Die erhebliche Inflation Anfang der 1920er Jahre bewirkte, dass Ausländer im Besitz von Devisen wie britischen Pfund oder US-Dollar in Deutschland vergleichsweise vermögend waren. Diese wirtschaftliche Chance nutzen die chinesischen Migranten und im Zuge einer „Kettenmigration“ entstand eine kleine Community von bis zu 150 Männern. Chinesische Frauen lebten seinerzeit in Hamburg nicht.
In St. Pauli entwickelte sich die kurze und enge Schmuckstraße zwischen Talstraße und Großer Freiheit zum Zentrum der chinesischen Migration. Um 1925 bildete sich dort eine Art Miniatur-Chinatown. Mehrere chinesische Speiselokale eröffneten, ein Tabakladen, ein Heuerbüro, Ausrüstungsgeschäfte für Seeleute (ship chandler) und verschiedene Unterkünfte. Weitere chinesische Geschäfte und Wäschereien nahmen ihren Betrieb in benachbarten Straßen wie der Talstraße und Heinestraße (Hamburger Berg) auf. Viele chinesische Wohnungen und Lokale lagen im Keller, da diese günstiger und für Ausländer leichter anzumieten waren.
In der nahe gelegenen Amüsiermeile Große Freiheit, damals noch auf Altonaer Boden, betrieben chinesische Inhaber das Neu-China und das Cheong Shing (Große Mauer). Beide avancierten schnell zu überregional bekannten Unterhaltungslokalen und boten Musik und Tanz an. Sie etablierten sich zudem sofort als Treffpunkte chinesischer Seeleute und Migranten. Im Ballsaal des Cheong Shing gründete sich am 10. Oktober 1929 auch der Chinesische Verein in Hamburg, der ein Grabfeld auf dem Friedhof Ohlsdorf erwarb, darüber hinaus aber anfangs nur wenig Aktivitäten entfaltete.
Die Hamburger Bevölkerung taufte, wie eingangs erwähnt, die Schmuckstraße um 1925 als „Chinesenviertel“. Dies erinnerte entfernt an die weit größeren Chinatowns in Nordamerika, vor allem in San Francisco und New York. Wie in den USA kursierten sagenhafte Gerüchte über die chinesischen Kreise in St. Pauli. Chinesen würden geheime „Opiumhöhlen“ und illegale Spielstätten betreiben. Angeblich, so die Legende, hätten sie sogar ein Tunnelsystem zwischen St. Pauli und dem Hafen gegraben, um unerkannt Schmuggelgeschäften nachzugehen. Letzteres war selbstverständlich ein Hirngespinst, das selbst die damalige Hamburger Presse als falsch bezeichnete („Schauermärchen“). Opium hingegen wurde durchaus von einigen chinesischen Seeleuten und Migranten konsumiert, dies bildete aber keinerlei Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.
Das Chinesenviertel entwickelte sich rasch zu einer touristischen Attraktion und wurde in den ersten alternativen Hamburgführern seit 1930 vorgestellt. Die chinesischen Lokale in der Großen Freiheit lockten Vergnügungssuchende aus Hamburg und weit darüber hinaus. Selbst Berliner wie Kurt Tucholsky faszinierte die ausgelassene und kosmopolitische Atmosphäre in Lokalen wie dem Neu-China. Die ersten alternativen Stadtführer erwähnten das Chinesenviertel als touristische Attraktion. Der Journalist Erich Lüth ermahnte deutsche Gäste chinesischer Lokale 1932 (Kleiner Führer durch Hamburg), die Chinesen und ihre Stätten nicht zu aufdringlich zu begaffen, sondern sich ruhig an den Tisch zu setzen und seinen Tee zu schlürfen. Hans Harbeck erwähnte 1930 in Das Buch von Hamburg (aus der Reihe „Was nicht im Baedeker steht) die chinesischen Stätten in der Großen Freiheit wie das Cheong Shing, „der hauptsächliche Treffpunkt der Asiaten und gleichzeitig ein Magnet für Neugierige aus allen Gesellschaftsschichten“.
Die Hamburger Polizei konnte dem touristischen Potential des Chinesenviertels nichts abgewinnen. Sie versuchte mit zahlreichen Ausweisungen, die chinesische Einwanderung einzudämmen. Aufgrund eines deutsch-chinesischen Staatsvertrages von 1921 forderte das Auswärtige Amt in Berlin aber ein lautloses Vorgehen ein. Die Hamburger Polizei stieß 1925 aufgrund des Chinesenviertels eine deutliche Verschärfung des Hafengesetzes an. Schiffskapitäne mussten nach der Neufassung des Gesetzes der Hafenpolizei vor dem Landgang zuerst eine Liste mit den an Bord befindlichen Seeleuten vorlegen. Ein seinerzeit verbreiteter Handzettel offenbart den staatlichen Rassismus dahinter: „Farbige sind als solche zu bezeichnen!“
Das „Chinesenviertel“ in St. Pauli etablierte sich trotz großer Widerstände seitens Polizei und Behörden zum Ort globaler Migration. Die damals vielen chinesischen Seeleuten erhöhten auf Landgang zusätzlich die Sichbarkeit der chinesischen Präsenz. Abseits aller Ressentiments und des alltäglichen Rassismus entwickelte sich das Chinesenviertel und die chinesischen Lokale in der Großen Freiheit zu einer neuen touristischen Sehenswürdigkeit in St. Pauli.
Weiterführende Literatur:
Amenda, Lars, Fremde – Hafen – Stadt. Chinesische Migration und ihre Wahrnehmung in Hamburg 1897-1972, München/Hamburg 2006 (Forum Zeitgeschichte, Bd. 17).
Amenda, Lars, China in Hamburg, hrsg. von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg 2011.
Amenda, Lars, Heizer, Köche & Container. China in Hamburg. Begleitbroschüre zur Ausstellung / 锅炉工,厨师和集装箱。中国在汉堡, hrsg. vom St. Pauli-Archiv, übersetzt von Keke Wei, Hamburg 2018.
Amenda, Lars, „Chinesenviertel“. Migration, Imagination und Erinnerung, in: Jürgen Zimmerer/Kim Sebastian Todzi (Hrsg.), Hamburg: Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung, Göttingen 2021 (Beiträge zur Geschichte der kolonialen Globalisierung, Bd. 1), S. 415-427.
Amenda, Lars, „… ganze Rudel von Chinesen“. Anti-chinesischer Rassismus in Hamburg 1900-1950, in: Mechthild Leutner/Pan Lu/Kimiko Suda (Hrsg.), Anti-asiatischer Rassismus in Deutschland: Historische und gegenwärtige Kontexte, Diskurse und praktische Erscheinungsformen, Widerstand, Wien 2022 (Berliner China-Hefte), S. 63-77.
Jürgens, Ludwig, Sankt Pauli. Bilder aus einer fröhlichen Welt, Hamburg 1930, S. 14-18.
Küttner, Sibylle, Farbige Seeleute im Kaiserreich. Asiaten und Afrikaner im Dienst der deutschen Handelsmarine, Erfurt 2000.
Bildnachweise:
Abb. Slider: https://geschichtsbuch.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/255/2024/01/Chinesische-Communitys-in-Hamburg_%E6%B1%89%E5%A0%A1%E7%9A%84%E5%8D%8E%E4%BA%BA%E7%A4%BE%E5%8C%BA.pdfAlle Rechte bei Lars Amenda; Abb. 1: Gustav Roscher, Großstadtpolizei. Ein praktisches Handbuch der deutschen Polizei, Hamburg 1912, S. 400 / Abb. 2 und 3: Jürgens, Sankt Pauli, unpaginiert / Abb. 4: Udo Pini, Zu Gast im alten Hamburg. Erinnerungen an Hotels, Gaststätten, AUsflugslokaLe, Ballhäuser, Kneipen, Cafés und Varietés, München 1987, S. 15 / Abb. 5. Staats-und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky (Hamburger Anzeiger, Illustrierte Wochenbeilage, vom 23.11.1929) / Abb. 6: Sammlung Martin Spruijt