Gängeviertel und Elendsquartiere

Leonie Barghorn

Leonie Barghorn war Bundespreisträgerin im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2012.

Zwischen Valentinskamp im Norden und den Vorsetzen im Süden erstreckten sich die Gängeviertel in der Hamburger Neustadt

Nur wenig blieb

Wer heute den Valentinskamp in Hamburgs Neustadt entlanggeht, kommt an den letzten Resten des Hamburger Gängeviertels vorbei. Heute sind es nur noch wenige Häuser, doch im 19. Jahrhundert bedeckte das Gängeviertel fast das gesamte Gebiet der heutigen Alt- und Neustadt.

Die Entstehung des Hamburger Gängeviertels beginnt im späten Mittelalter. Seit der Gründung der Hanse im 12. Jahrhundert war der Hamburger Hafen der wichtigste Arbeitgeber der Stadt und zog Arbeitssuchende aus dem Umland an. Als deren Unterkünfte entstanden im 16. Jahrhundert Budenreihen in der Altstadt, die üblichen Häuser im Gängeviertel. Eine Bude verfügte über ein bis zwei kleine Räume im Erdgeschoss und einen Dachboden. Sie war ein kleines Haus, meist ein Fachwerkbau, das als Mietwohnung für die ärmeren Bevölkerungsschichten diente.

Durch Vorderhäuser wie diese an der Steinstraße gelangte man die dichtbevölkerten Hinterhöfe

Dicht an dicht waren die Buden gereiht, jedoch nicht direkt an den Straßen. Erreicht wurden die Budenreihen über einen schmalen Durchgang, der durch das Vorderhaus hindurch führte. Dahinter lag der Hof, der vom Giebel des Vorderhauses und zwei Budenreihen, links und rechts, eingeschlossen wurde. In der Mitte der Reihen war der Gang, der Namensgeber des Viertels. Im Laufe der nächsten Jahrhunderte breitete sich das Gängeviertel über Hamburgs Alt- und Neustadt aus.

Die bis 1860 aufrechterhaltene Torsperre machte die Ansiedlung in den Vororten wenig attraktiv

Im 18. Jahrhundert wurde Hamburg kommerzieller Mittelpunkt Nord-Europas, und so wuchs die Stadtbevölkerung bis 1792 auf über 100 000 Einwohner an. Da diese wegen der Torsperre, welche das Betreten und Verlassen der Stadt in der Nacht verhinderte, innerhalb der Wallanlagen wohnen mussten, kam es bald zu einer Wohnungsnot.

Viele der Budenreihen in den Gängevierteln, die sich inzwischen fast durch die gesamte Innenstadt zogen, erhielten weitere Stockwerke, in anderen Häusern wurden die Wohnungen auf kaum mehr als 10 m² verkleinert. Die im 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung verstärkte diese Entwicklung. Vor allem das starke Wirtschaftswachstum in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts lockte viele Arbeiter nach Hamburg, die meist Arbeit im Hafen suchten. Gleichzeitig sorgte es dafür, dass viele Kaufleute, die vorher meist ebenfalls im Gängeviertel gewohnt hatten, es sich leisten konnten, nach Aufhebung der Torsperre im Jahre 1860 in Villen außerhalb der Innenstadt umzuziehen. So gehörte Ende des 19. Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Bewohner der Gängeviertel zur Arbeiterklasse.

„Labyrinthe von Häusern, Buden, Schmutz und Elend“. Mit diesen Worten beschrieb der Hamburger Notar Heinrich Asher das Hamburger Gängeviertel im Jahre 1865.

Nicht immer ein „Strassenball“ – die Überbevölkerung in den Gängevierteln wurde in zeitgenössischen Abbildungen häufig romantisiert

Ein tagtägliches Bild: Arbeitssuche in den Hafenvierteln

Die Innenstadt mit dem Gängeviertel gehörte nun zu den ärmsten Bezirken Hamburgs.

Vor allem Gelegenheitsarbeiter, die im Hamburger Hafen jeden Tag aufs neue Arbeit suchen mussten, bewohnten das überbevölkerte Viertel. Die Wohnungsnot, die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts weiter verschärfte – nicht zuletzt durch den Abriss einiges Teils des Viertels für den Bau der Speicherstadt ab 1878 – sorgte nicht nur dafür, dass die Menschen dicht an dicht lebten, sondern auch dafür, dass die Mieten wesentlich höher waren als in anderen Arbeiterstadtteilen. Vielen Familien blieb kaum genug Geld zum Leben.

Hinzu kommen die schlechten hygienischen Verhältnisse, die im Gängeviertel herrschten: Noch am Ende des 19. Jahrhunderts schöpften die meisten Bewohner des Gängeviertels Wasser direkt aus den Fleeten, nutzten diese jedoch auch gleichzeitig zum Entsorgen jeglicher Abfälle.

Außerdem traten die Fleete häufig über die Ufer. Vor allem Häuser im Südteil der Neustadt waren permanent feucht und somit ein idealer Platz für die Ausbreitung von Schimmel. Zudem gab es zu der Zeit noch eine offene „Kanalisation“, die in der Mitte der Gassen verlief.

Das Kehrwiederviertel am Binnenhafen wurde für die Speicherstadt abgerissen, viele seiner Bewohner zogen in die Gängeviertel um

All dies hatte zur Folge, dass die Choleraepidemie, welche Hamburg im Jahre 1892 heimsuchte, besonders viele Opfer im Gängeviertel forderte.

Viele Bewohner der Gängeviertel in der südlichen Neustadt waren während der Cholera-Epidemie auf die Möglichkeit zum Wasserabkochen am Meßberg angewiesen.

Als Reaktion auf die Auswirkungen der Cholera wurde in der Hamburger Bürgerschaft eine Kommission zur Überprüfung der gesundheitlichen Verhältnisse gebildet.

Die Abbruchmaßnahmen und anschließenden Neubauten, die Georges-Eugène Haussmann im Paris der 1860er Jahre umgesetzt hatte, waren Vorbild für entsprechende Planungen in Hamburg

Sie forderte angesichts der schlimmen Lage in der Innenstadt „die Niederreißung der Gängeviertel und Wiederaufbau von breiten Straßen“ nach dem Vorbild der Pariser Avenues. Man begann 1893 mit der Sanierung der marodesten Häuser, doch da diese Arbeit mit hohen Kosten und wenig Prestige verbunden war und außerdem die Angst vor einem erneuten Ausbruch der Cholera immer weiter abnahm, hörte man schnell wieder damit auf.

Die Gründe für die 1897 beginnende Komplettsanierung waren schließlich sozialer Natur. Das Gängeviertel galt inzwischen als „Schmelztiegel für eine sozialdemokratische Bewegung“, nicht zuletzt wegen des Hafenarbeiterstreiks im Jahre 1896.

So wurden bis zum Beginn der 1920er Jahre Neustadt Süd und die Altstadt saniert.

Für die Kontorhäuser südlich der Steinstraße mussten die Gängeviertel in der Altstadt weichen

Dabei geriet die anfangs von der Kommission beschlossene Beschaffung von Ersatzwohnungen für die Tausenden Betroffenen immer mehr ins Hintertreffen. Auf den zuerst sanierten Flächen im Stadtteil Neustadt Süd entstanden zwar neue Wohnhäuser, da für diese jedoch keine Mietpreise festgelegt wurden, waren Mieterhöhungen die Folge.

Bei der Sanierung der Altstadt dann stand die Bildung einer „City“ mit großen Kontor- und Geschäftshäusern und breiten, durchgehenden Straßen im Vordergrund.

Das Nebeneinander von Alt und Neu währte nur wenige Jahre. Der letzte noch bestehende Teil des Gängeviertels in Neustadt Nord wurde in den 1920ern das Symbol für „politische Radikalisierung, Delinquenz und Prostitution.“ Er wurde im dritten Reich saniert, wobei hier wieder der soziale Wohnungsbau und politische Gründe im Vordergrund standen. Das Gängeviertel galt als Brutstätte des Verbrechens und Kommunismus. Im Sinne der Stadtgesundung sollte hier ein neues Viertel für „gesundgebliebene“ Arbeiter entstehen. Zum ersten Mal entstand außerhalb des Viertels, besonders unter Künstlern, eine kritische Haltung gegenüber dem Abriss, die sich nicht gegen den Hamburger Senat, sondern gegen das „lautlose Verschwinden des letzten natürlich gewachsenen Teils der Stadt“ richtete. Viele pilgerten in die Neustadt, um  sie noch einmal zu malen oder zu fotografieren.

 

Grundlegende Literatur:

Dahms, Geerd: Das Hamburger Gängeviertel. Unterwelt im Herzen der Großstadt, Berlin 2010.

Donsbach, Heiko: Von alten Steinen und Wünschen. Auf den Spuren des historischen Gängeviertels, in: Gängeviertel e.V. (Hg.): Mehr als ein Viertel. Ansichten und Absichten aus dem Hamburger Gängeviertel, Hamburg/Berlin 2012.

Evans, Richard: Tod in Hamburg. Stadt , Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 18301910, Reinbek bei Hamburg 1996.

Grüttner, Michael: Soziale Hygiene und soziale Kontrolle. Die Sanierung der Hamburger Gängeviertel 1892-1936, in: Herzig, Arno (Hg.): Arbeiter in Hamburg. Unterschichten, Arbeiter und Arbeiterbewegungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, Hamburg 1983.

Joeres, Fabian: Der Untergang der Gängeviertel. Eine Darstellung der Sanierungstätigkeiten, ihrer Auslöser und Folgen, Hamburg 2010.

Schubert, Dirk ; Harms, Hans: Wohnen am Hafen. Leben und Arbeiten an der Wasserkante ; Stadtgeschichte, Gegenwart, Zukunft ; das Beispiel Hamburg, Hamburg 1993.

 

Bildnachweise:

Abb. Titelfeld: Kinder auf Aborten im Gängeviertel, nach Wikimedia Commons (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Pincerno_-_G%C3%A4ngeviertel_1890.jpg, Ausschnitt).

Abb. Thementext: Hamburg um 1841 (Ausschnitt), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hamburg_1841.jpg) / Steinstraße um 1870, Foto von Carl F. Höge, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, aus HH 2038/4,
S. 55 / Torsperre am Millerntor um 1820, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Suhr-Millerntor_um_1820.jpg) / „Straßenball“, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_diverse (5) / Heuerbaas, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_287-07= / Kehrwieder um 1870, Foto von G. Koppman & Co., Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, aus HH 2038/4,
S. 48 / Wasserversorgung während der Cholera, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_272-01=1893 (2) / Haussmann’sche Avenue de l’Opéra, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:P._Emonts_-_Demolition_of_Butte_des_Moulins_for_Avenue_de_l%27Op%C3%A9ra.jpg?uselang=de) / Kontorhausviertel in Bau, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_124-02=02_113 / Gängeviertelabriss südliche Altstadt, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_124-02=02_15.