Jüdische Mitstreiter der Arbeiterbewegung

Ulrich Bauche

Wenn man die Entwicklung der Arbeiterbewegung mit der der deutsch-jüdischen Geschichte vergleicht, ergeben sich interessante Entdeckungen in Bezug auf die Motivation und die Identität der jüdischen Sozialisten.

Demokratischer Aufbruch

Die erste Phase der Beteiligung jüdischer Hamburger an der Arbeiterbewegung ist die Zeit des sogenannten Vormärz und der revolutionären Erhebung 1848. Von jüdischer Seite war es eine aktive Beteiligung am demokratischen Aufbruch, worin sich das Streben nach rechtlicher Gleichstellung mit dem Kampf um deutsche Einheit und Demokratie verband.

Zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Tabakfabrik seines Vaters engagierte sich Salomon Meyer Sternberg in der Arbeiterbewegung

Für die Juden war es eine wesentliche Entscheidung, ihr Leben nicht wie bisher abgegrenzt, außerhalb der größeren Gesellschaft, sondern in ihr zu führen. Die dazu notwendigen Transformationen (Wandel) des Judentums, die Akkulturation (Annäherung an die Lebensweise der Deutsche), schuf neue Identitäten unter veränderten politischen Verhältnissen.

Salomon Meyer Sternbergs Biographie bietet ein Musterbeispiel für die Verbindung des jüdischen Emanzipationsstrebens mit dem Kampf um Gewerbefreiheit gegen das Zunftsystem und um die Verbesserung der Lage der Lohnarbeiter – dies alles mit Hilfe von gesamtdeutschen Vereinigungen über die Grenzen der einzelnen Bundesstaaten hinaus.

Sternberg wurde 1824 in Hamburg als Sohn des Tabak- und Zigarren-Einzelhändlers Meyer Moses Sternberg geboren und besuchte die Israelitische Freischule von 1815. Da sein Vater früh verstarb, wohnte Sternberg mit seiner Mutter in dem für jüdische Bedürftige 1838 von Lazarus Gumpel eingerichteten Wohnstift in einer der 53 kleinen Wohnungen nahe dem Großneumarkt.

Das Tabakgewerbe wurde damals in kleineren und größeren Werkstätten bis hin zu Manufakturen von etwa 100 Beschäftigten ausgeübt. Weil es ein Gewerbe war, das Importwaren verarbeitete, war es nicht an den noch herrschenden Zunftzwang gebunden. Daher hatte es in Hamburg einen größeren Anteil jüdischer Unternehmer und ebenso jüdischer Arbeiter. Sie bildeten etwa ein Viertel der über Tausend in diesem Gewerbe Beschäftigten und waren damit hier die größte jüdische Arbeitergruppe überhaupt. 1845, also 21-jährig, wurde Sternberg Mitglied des eben gegründeten Arbeiter-Bildungs-Vereins in Hamburg, des ersten in Deutschland, der schon bald etwa 600 Mitlieder zählte.

Seine Aktivisten waren vornehmlich Handwerker-Sozialisten, die aber unter scharfer polizeilicher Überwachung und unter Verbotsdrohungen sich an die Volksbildungsbestrebungen des fortschrittlichen Bürgertums anpassten.

Als er 1847 von einer Handwerker-Wanderschaft zurückkehrte, die ihn in mehrere größere Städte Westdeutschlands und nach Brüssel und Antwerpen führte, war er vermutlich  Mitglied des geheimen Bundes der Kommunisten, der in Hamburg eine starke und aktive Gemeinde hatte.

Stephan Born gründete die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung, um die bessere Zusammenarbeit kleinerer Arbeitervereine zu ermöglichen

1848 beteiligte sich Sternberg an der Gründung des Hamburger-Cigarrenarbeiter-Vereins und war von Oktober 1849 bis zum Frühjahr 1850 dessen Präsident. Vor 1848 schon hatte er sich für den Anschluss seines Vereins an die Deutsche Arbeiter-Verbrüderung unter der Leitung des jüdischen Schriftsetzers Stephan Born in Berlin erfolgreich eingesetzt. So übernahm Sternberg im Februar 1850 die Präsidentschaft im Bezirks-Comité der Arbeiter in Hamburg, der hiesigen Unterorganisation der Verbrüderung. Sie hatte ihren Sitz im Haus des Bildungsvereins für Arbeiter, wurde aber im Unterschied zu diesem noch im gleichen Jahr im Zuge der gegenrevolutionären Maßnahmen unter dem Druck der zeitweiligen Besetzung Hamburgs durch preußische Truppen verboten. Die über tausend-köpfige Mitgliedschaft des Bildungsvereins wählte den angefeindeten Sternberg von Mitte 1852 bis Januar 1853 zu ihrem Vizepräsidenten.

Unter dem noch schärfer gewordenen staatlichen Druck zog er sich danach ins Berufs- und Privatleben zurück, betrieb eine Tabak- und Zigarrenwerkstatt, die als Fabrik firmierte, und starb schließlich 1902 in Hamburg.

Es ist auffällig, dass in der Periode von 1853 bis 1871 kaum noch bedeutende Aktivitäten von Juden in der Hamburger Arbeiterbewegung festzustellen sind. In dieser Zeit vollendete sich die rechtliche Gleichstellung der Juden vor dem Hintergrund ihres beispiellosen wirtschaftlich-sozialen Aufstiegs. Ein Indiz dafür ist ihre vorbildliche Armenfürsorge, die von immer weniger Bedürftigen am Ort in Anspruch genommen wurde, so dass bedeutende Leistungen nach Ost-Europa und nach Erez Israel fließen konnten.

1878 wurde das Reichsgesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ verabschiedet

Mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches unter Preußens Führung 1871 wurde die erneut anwachsende, aber in Richtungen gespaltene Arbeiterbewegung wieder unter stärkere Verfolgung gesetzt. Der Druck von außen führte 1875 zum Zusammenschluss der beiden größeren Arbeiter-Parteien. Die Reichsverfassung ließ nach dem Erlass des Gesetzes von 1878, „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, also dem sogenannten Sozialistengesetz, nur unter schwierigen Umständen die Beteiligung an den Reichstagswahlen zu. Unter diesen Umständen der Unterdrückung durch Verbote, Haftstrafen, Ausweisungen und der Ächtung durch weite Schichten der sich immer mehr chauvinistisch und antisemitisch gebärdenden Gesellschaft wuchsen der Arbeiterbewegung neue Sympathisanten aus der jüdischen Bevölkerung zu.

Die Periode 1890 – 1918 ist durch die ersten Wellen des europaweit wirkenden Antisemitismus gekennzeichnet. Der Zionismus als eine der jüdischen Abwehrformen wurde von der auf Internationalismus eingestellten Arbeiterbewegung abgelehnt. Die starke deutsche Sozialdemokratie befand sich zum Kaiserreich und zu den es tragenden Gesellschaftsschichten in einem ambivalenten Verhältnis von krassem Ausgegrenztsein und von vielfältiger Beteiligung, gekennzeichnet durch den Begriff negativer Integration. Für die Periode 1919 – 1933, in der verfassungsrechtlich den Juden alle Möglichkeiten offen standen, aber auch die Bedrohung durch eine kaum gehemmte Feindschaft immer mehr anwuchs, sei ein Beispiel erwähnt: Max Mendel.

1919 präsentierte Max Mendel (dritter von links) Mitgliedern der Reichsregierung ein Kinder- und Erholungsheim der „Produktion“ an der Ostsee.

 

Max Mendel wurde 1872 in Hamburg geboren. Er arbeitete als Buchhalter in der väterlichen Importhandelsfirma und betrieb daneben volkswirtschaftliche und sozialwissenschaftliche Studien. Seine Kenntnisse setzte er u. a. in Vorträgen im sozialdemokratischen Handlungsgehilfen-Verband ein, wo er aber wütenden Angriffe von Antisemiten erlebte. Mendel beteiligte sich 1899 an der Gründung des Konsum-, Bau- und Sparvereines „Produktion“, wurde darin 1909 Mitglied des Vorstandes und dessen Vorsitzender von 1920 bis 1928. Wegen seiner anerkannten Wirtschaftskompetenz entsandte ihn die SPD für 1921 – 1925 in die Hamburger Finanzdeputation und nach der Bürgerschaftswahl im März 1925 in den Senat.

Trotz der Wiederwahl 1928 schieden im Juni 1929 mit Mendel und Carl Cohn, dem anerkannten Finanzsenator von der linksbürgerlichen Partei „DDP“, die beiden letzten jüdischen Senatoren aus der Hamburger Regierung aus. Offensichtlich war es ein Zurückweichen vor dem wieder schärfer werdenden politischen Antisemitismus, denn grade 1928 setzten die Angriffe gegen den angeblich den Mittelstand bedrohenden, verjudeten „Moloch Produktion“ durch die Wahlagitation der Deutsch-Nationalen Volkspartei  ein deutliches Zeichen. Aber auch in den eigenen Reihen der Sozialdemokratie verursachte der Antisemitismus Unsicherheit.

An Max Mendels Schicksal im Nationalsozialismus erinnert heute ein „Stolperstein“ auf dem Hamburger Rathausmarkt

Dem Verlust der Ämter folgte bald die politische Isolierung Max Mendels. Sein Leben endete im KZ Theresienstadt 1942.

Die meisten der jüdischen Mitstreiter der Arbeiterbewegung standen im Einklang mit ihrem jüdischen Selbstbewusstsein. Sie vertraten Motive der eigenen erstrebten Emanzipation und Selbstbehauptung in der nichtjüdischen Mehrheits-Gesellschaft und waren gleichzeitig Beispiele der innerjüdischen Modernisierung.

Juden in der Arbeiterbewegung standen in einem jeweiligen vielfältigen Spannungsfeld: Das Klassenbewusstsein, das viele Arbeiter in ihren Arbeiter-Wohnvierteln und auf der Arbeit entwickelten, konnte von jüdischen Mitstreitern kaum erlebt und verinnerlicht worden. Wegen ihrer anderen Herkunft und Erziehung mussten sie den Vorwurf mangelnden Klassenbewusstseins häufig einstecken. Die in der Arbeiterbewegung engagierten Juden fanden nur eine sehr geteilte Akzeptanz in der jüdischen Gesellschaft, da ein großer Anteil von ihr selbständige Kaufleute und Unternehmer waren. Daher war die Furcht vor den sozialrevolutionären Zielen der Arbeiterbewegung groß.

Andererseits wurde von einflussreichen deutschen Kreisen eine angebliche Abhängigkeit der Arbeiterbewegung von jüdischen Geldgebern behauptet. In diesen Behauptungen vereinten sich antisozialistische, antisemitische, konservative und chauvinistische Auffassungen.

Der deutsche Obrigkeitsstaat bis 1918 –  Preußen ebenso wie Hamburg mit kleinen Differenzierungen – unterdrückte und verfolgte die sozialistischen und demokratischen Bewegungen.

Das in der Arbeiterbewegung vertretene Prinzip des „proletarischen Internationalismus“, der weltweiten Zusammenarbeit der Arbeiter, wurde auffällig stark von jüdischen Mitstreitern mit Leben erfüllt. Ihre Neigung dazu resultierte aus der Weltläufigkeit und aus weiträumigen Familienbeziehungen der Juden. In der aufgeheizten Stimmung des Machtstrebens Deutschlands wurde der „proletarische Internationalismus“ aber als Landesverrat aufgefasst und mit dem angeblichen  Streben nach „jüdischer Weltherrschaft“ gleichgesetzt.

Von den individuellen Motiven abgesehen, galt allgemein für die an der Arbeiterbewegung beteiligten Juden ein gemeinsames Streben: Sie wollte für eine demokratische Gesellschaft eintreten, in der soziale, religiöse und ethnische Diskriminierung endgültig verbannt sein sollten.

 

Literatur:

Arbeiter in Hamburg. Unterschichten, Arbeiter und Arbeiterbewegung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, hg. v. Arno Herzig, Dieter Langewiesche und Arnold Sywottek, Hamburg 1983.

„Wir sind die Kraft“. Arbeiterbewegung in Hamburg von den Anfängen bis 1945; Katalogbuch zu Ausstellungen des Museums für Hamburgische Geschichte, hg. v. Ulrich Bauche, Ludwig Eiber, Ursula Wamser und Wilfried Weinke, Hamburg 1988.

 

Bildnachweise:

Abb. Titelfeld: Zigarrenmacher (J. Marx, Ausschnitt), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Painting_of_a_Tabacco_factory.jpg).

Abb. Thementext: Zigarrenmacher (J. Marx), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Painting_of_a_Tabacco_factory.jpg) / Stephan Born, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:StephanBorn.jpg?uselang=de) / Reichsgesetzblatt zum Sozialistengesetz, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Reichsgesetzblatt34_1878.jpg) / Gruppenbild vor dem Kinder-Erholungsheim „Produktion“ in Haffkrug an der Ostsee im Juli 1919, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hoher_Besuch_im_Gruppenbild_vor_dem_Kinder-_Erholungsheim_Produktion_in_Haffkrug_an_der_Ostsee_im_Juli_1919.jpg) / Stolperstein für Max Mendel (Foto: NordNordWest, Lizenz: Creative Commons by-sa-3.0 de), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Max_Mendel_-_Rathausmarkt_1_(Hamburg-Altstadt)_Stolperstein.nnw.jpg?uselang=de).