Nationalismus vor und nach der Wiedervereinigung

Christoph Strupp

Am 3. Oktober 1990 versammelten sich auf dem Hamburger Rathausmarkt rund 200.000 Menschen, um den Beitritt der fünf neuen Länder Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zur Bundesrepublik zu feiern. Die ehemalige „Hauptstadt der DDR“, Ost-Berlin, schloss sich mit West-Berlin zum Bundesland Berlin zusammen. Die Volkskammer der DDR hatte am 23. August 1990 über den Beitritt abgestimmt und am 30. August war der „Einigungsvertrag“ von beiden deutschen Staaten unterschrieben worden.

Deutsche Einheit statt Wiedervereinigung

Eine „Wiedervereinigung Deutschlands“ im Wortsinn war es nicht, denn die ehemaligen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie verblieben bei Polen und der Sowjetunion. Die Bundesregierung hatte nach anfänglichem Zögern die Unveränderlichkeit der nach 1945 neu gezogenen Grenzen bekräftigt. Zudem war der Staatsakt am 3. Oktober 1990 keine Neugründung der Bundesrepublik durch zwei gleichrangige Partner, sondern die DDR-Länder „traten dem Geltungsbereich des Grundgesetzes“ bei. Überlegungen, die Ereignisse von 1989 und 1990 zum Anlass zu nehmen, gemeinsam eine neue Verfassung zu erarbeiten, hatte die Bundesregierung eine Absage erteilt.

Am 3. Oktober 1990 erstand also nicht erneut das Deutsche Reich in den Grenzen von vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern die demokratische, marktwirtschaftliche und über die Europäische Gemeinschaft und die NATO fest in westliche Bündnisstrukturen eingebundene Bundesrepublik wurde größer. Für Teile der Gesellschaft und besonders für die intellektuellen Eliten dieser westlich orientierten Bundesrepublik hatte die „Nation“ in den beiden Jahrzehnten zuvor immer stärker an Bedeutung verloren. „Nationalismus“ schien bis 1989 ein überholtes politisches Konzept zu sein, von dem man sich klar abgrenzte. Stolz war man auf die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik nach 1945, auf Verfassung und Rechtsstaat und die Integration in europäische Strukturen.

Nach dem Fall der Mauer waren aber innerhalb kurzer Zeit Begriffe wie Volk, Vaterland, Nation, Nationalstolz oder auch einfach „deutsch“ in der Öffentlichkeit wieder viel präsenter. Ihren äußeren Ausdruck fand dies auch in einem unbefangeneren Umgang mit der Nationalflagge. Hatte die Frage nach der „nationalen Identität“ der Deutschen vor 1989 keine große Rolle gespielt, so wurde nun nach dem politischen Zusammenschluss intensiv über die Frage der „inneren Einheit“ diskutiert, die über west- und ostdeutsche „nationale“ Gemeinsamkeiten erreicht werden müsse.

Viele Menschen im In- und Ausland stellten sich angesichts dieser Beobachtungen die Frage: Welche Rolle würde die neue Bundesrepublik – wirtschaftliches Kraftzentrum und mit damals rund 78 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern größtes Land in Europa – in Zukunft spielen? Bestand nicht doch die Gefahr neuer nationalistischer und militaristischer Entwicklungen, wenn der „postnationale“ Sonderweg der kleineren alten Bundesrepublik endete?

Der französische Literaturnobelpreisträger François Mauriac hatte 1966 erklärt, er liebe Deutschland so sehr, dass er zufrieden sei, dass es gleich zwei davon gebe. Auch in der Bundesrepublik gab es solche Stimmen: Der Journalist Hermann L. Gremliza, Herausgeber der in Hamburg erscheinenden linken Monatszeitschrift „konkret“, sprach im Oktober 1989 noch vor dem Fall der Mauer davon, dass die Deutschen vor vierzig Jahren „von einer zivilisierten Welt in verträgliche Portionen zerlegt“ worden seien. Nun aber kämen sie zu sich! Viele Deutsche auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs empfanden die 1949 vollzogene Teilung in die Bundesrepublik und die DDR auch in den 1980er Jahren noch als ein Unglück. Andere sahen darin aber eine notwendige Garantie gegen deutsche Großmachtansprüche und gegen einen neuen „Griff ihrer Landsleute zur Weltmacht“, wie Gremliza in Anspielung auf den Beginn der Ersten Weltkriegs formulierte.

In der Bundesrepublik war die Forderung nach demokratischen Reformen in der DDR – Meinungs- und Reisefreiheit, freie Wahlen usw. – vor dem Mauerfall und erst recht in den Wochen danach bei den großen politischen Parteien und in den Medien unstrittig. Die Frage, ob dies auch auf eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten hinauslaufen könne oder solle, wurde dagegen zwischen Herbst 1989 und Sommer 1990 kontrovers diskutiert. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) stellte am 28. November 1989 im Bundestag überraschend ein „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ vor, das den angestrebten innerdeutschen Integrationsprozess in einen europäischen Rahmen einbettete. Im „Zustand des Friedens in Europa“ sollte Deutschland „seine Einheit wiedererlangen“. Später betonte er, Ängste der Nachbarn seien verständlich und man müsse sie ernst nehmen.

In der von CDU, CSU und FDP gestellten Bundesregierung war also die Überwindung der Zweistaatlichkeit frühzeitig ein politisches Ziel. In Hamburg vertraten die CDU- und FDP-Abgeordneten in der Bürgerschaft die gleiche Position. In weniger als einem Jahr wurde die Einheit über mehrere Zwischenschritte erreicht: den Wahlsieg der CDU-geführten „Allianz für Deutschland“ bei der Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990, den Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 und den am 31. August 1990 geschlossenen Einigungsvertrag. Dabei konnten sich die Regierungsparteien auch auf die Menschen in der DDR berufen, bei denen auf den Montagsdemonstrationen am 11. Dezember 1989 erstmals die Losung „Wir sind ein Volk!“ zu hören gewesen war – anstatt des bisher gerufenen und gegen die DDR-Obrigkeit gerichteten „Wir sind das Volk!“

Die SPD und die Grünen sowie Teile von Publizistik und Wissenschaft hatten dagegen 1989 und 1990 eine weniger eindeutige Haltung zur Frage der deutschen Einheit. Der Historiker Daniel Friedrich Sturm hat 2006 rückblickend in seinem Buch „Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90“ von einem Konflikt zwischen „Mahnern“ und „Machern“ bei den innenpolitischen Auseinandersetzungen um den Weg und die Verträge zur deutschen Einheit gesprochen. Allerdings stimmte die SPD-Fraktion im Bundestag letztlich den Zehn Punkten Kohls zu und unterstützte später auch die vertraglichen Zwischenschritte.

In Hamburg standen führende Sozialdemokraten von Anfang an auf der Seite der „Macher“. So sprach der ehemalige Hamburger Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) auf einer Sitzung des SPD-Parteivorstands am 30. Oktober 1989 – sogar noch vor dem Fall der Mauer! – von einem „neuen Bewusstsein von Gemeinsamkeit“ bei den Deutschen. Auch Dohnanyis Amtsvorgänger Hans-Ulrich Klose (SPD) und der amtierende Erste Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) gehörten zu den frühen Befürwortern der Einheit und trugen dazu bei, die Zustimmung ihrer Partei zu sichern.

In einem Interview in der Tageszeitung „Die Welt“ am 28. November 1989 warnte Voscherau, die SPD müsse aufpassen, die deutsche Einheit nicht zu verschlafen, weil „bisherige Vorstellungen liebevoll gehütet“ würden. Die neuen Entwicklungen seien „Grund zur Freude, nicht zur Sorge“, erklärte er am 17. Januar 1990 in der Hamburgischen Bürgerschaft. Ähnlich wie Klose betonte er aber auch den europäischen Rahmen, den der Prozess haben müsse. Und Europas Zukunft werde „keine Zukunft der Nationalstaaten sein“.

12.11.89: Auf der Hamburger Steinstraße wird zu einer Diskussion eingeladen, die den Bonner Großmachtanspruch und die kapitalistische Ausbeutung zum Inhalt haben.

Nur die Grünen kritisierten in der gleichen Sitzung die „Welle des Nationalismus“, auf der Helmut Kohl schwimme. Die anderen Parteien träten in einer Weise auf, „als hätten sie die DDR schon in der Tasche“. Angelehnt an die prominente Hamburger ZEIT-Journalistin Marion Gräfin Dönhoff, kehrten sie die Europa-Argumentation um: Wenn sowieso Europa im Vordergrund stehe, sei es auch egal, ob es darin ein oder zwei deutsche Staaten gebe. Von SPD-Seite wurde der Partei daraufhin „eine große Hilflosigkeit gegenüber der Nation und nationaler Entwicklung“ vorgeworfen. Mitte Februar beharrte eine Mitgliederversammlung der GAL noch auf der Zweistaatlichkeit und trat für eine Konföderation von Bundesrepublik und DDR ein, verbunden mit Abrüstung und Bündnisneutralität. Im Juni 1990, anlässlich der Debatte über den Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, stellten sich die Grünen dann zwar nicht mehr gegen die Einheit, protestierten aber dagegen, dass „nur ein kleinmütiger und kleinkrämerischer Export unseres gesellschaftlichen Status quo nach Osten hin stattfindet“. Sie forderten die Ausarbeitung einer neuen Verfassung und deren Annahme durch das deutsche Volk.

Anhängerinnen und Anhänger der radikalen Linken in der Bundesrepublik erkannten frühzeitig, dass sich die Wiedervereinigung politisch nicht verhindern ließ, warnten aber in zahllosen publizistischen Äußerungen das ganze Jahr 1990 hindurch, dass die „Kolonisierung der osteuropäischen Staaten“ drohe und es um ein „Projekt imperialistisches Großdeutschland“ gehe, gegen das massiver Widerstand geleistet werden müsse. Die Wiedervereinigung werde die Kriegsgefahr fördern. Am 3. Oktober kam diese Position in Hamburg unter anderem bei dem Verband der Verfolgten des Naziregimes (VVN / Bund der Antifaschisten) zum Ausdruck, die mit einer Mahnwache vor dem Thalia Theater davor warnten, dass ein übermächtiges Groß-Deutschland nach den Erfahrungen der Geschichte nach innen und außen aggressiv handeln werde.

Die politischen Auseinandersetzungen um den richtigen Weg zur Einheit, um die Form, die sie annehmen sollte, und die Sorgen über die zukünftige Entwicklung der größeren Bundesrepublik waren auch bei den offiziellen Feiern zum 3. Oktober in Hamburg durchaus präsent. Geradezu ein Leitmotiv vieler Reden und Kommentare im Lauf des Tages war, dass die Einheit „friedlich“ erreicht worden sei. Zwar waren auf dem Rathausmarkt, am Jungfernstieg und quer durch die Stadt viele schwarz-rot-goldene Fahnen zu sehen und manche Menschen hatten sich sogar schwarz-rot-gold geschminkt. Tageszeitungen erschienen mit schwarz-rot-goldenen Aufmachern und auch Ladengeschäfte und Kneipen verwendeten die Nationalfarben zur Dekoration. Bereits in dem ökumenischen Gottesdienst am frühen Abend in der St.-Michaelis-Kirche wurde in den Reden aber auch an die „dunklen Schatten der Vergangenheit“ erinnert und ausdrücklich gefordert, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg und Gewalt ausgehen.

Bürgermeister Henning Voscherau sprach später auf dem Rathausmarkt von Dankbarkeit „für dieses Geschenk der Geschichte“ und von „Tränen der Freude“. Zugleich erklärte er: „Wir wollen dazu beitragen, dass nie wieder Menschen über Deutschland oder über deutsche Politik Tränen vergießen müssen. Das versprechen wir gerade jetzt, am Tage der deutschen Einheit, unseren europäischen Nachbarn, die in diesem Jahrhundert unter uns Deutschen gelitten haben.“ Das Versprechen gelte vor allem auch den Opfern des NS-Unrechts und dem jüdischen Volk. Auch der Hinweis auf eine neue Zukunft „im Herzen Europas ohne Grenzen“ zielte auf Ängste vor Alleingängen eines starken gesamtdeutschen Nationalstaates.

Insgesamt war der 3. Oktober in Hamburg ähnlich wie in der übrigen Bundesrepublik bewusst eher als großes Volksfest und nicht als eine Kundgebung neuer nationaler Größe gestaltet. Es gab eine Großbild-Leinwand mit Liveübertragungen eines Konzerts aus dem Rathaus und der Feier am Berliner Reichstag, eine Laserprojektion am Ballindamm sowie ein großes Feuerwerk über der Alster.

Zu einem Video der Feierlichkeiten geht es  hier →

„Allzu überschwengliches Nationalgefühl“ sei ausgeblieben, kommentierte das „Hamburger Abendblatt“ am 4. Oktober erleichtert. Bis auf ein paar Vorfälle am Rathausmarkt, dem Jungfernstieg und auf der Reeperbahn kam es auch zu keinen größeren politisch motivierten Krawallen von links oder rechts. Auch das von der GAL in der „Fabrik“ in Altona organisierte Punk-Konzert mit dem Titel „Die widerliche Vereinigung“ mit rund 500 jungen Leuten ging friedlich zu Ende.

Während die Freude der Feiernden rund um den Rathausmarkt in den Medien breit wiedergegeben wurden, sind diejenigen, die den Ereignissen ablehnend gegenüberstanden und den öffentlichen Veranstaltungen auswichen, schwieriger zu erfassen. Eine 1991 publizierte Umfrage des Hans-Bredow-Instituts nach privaten Erlebnissen am 3. Oktober ermöglicht immerhin schlaglichtartige Einblicke in deren Gefühls- und Gedankenwelt. Sie sind von einer gewissen Hilflosigkeit, Ängsten und dem Rückzug ins Private gekennzeichnet. So berichtete eine junge Hamburger Angestellte über ihren 3. Oktober: „00:30 – ca. 2:00. Nach einer Versammlung einer Friedensgruppe, in der ich Mitglied bin, war ich mit meinen Freunden noch gemeinsam in der Kneipe. Ich gehe nach Hause, durch Menschenmassen, die mir aus Richtung Alster / Innenstadt entgegenkommen. Eine riesige Kolonne von Polizei-Einsatzwagen rast vom Hafen nach Altona, Besoffene gröhlen ‚Deutschland über alles‘. (…) Mein Walkman schirmt mich vom Schlimmsten ab. ‚War – what is it good for – absolutely nothing.‘ Zu laut, ich weiß, nicht gut für mein Gehör. Aber das hier ist ein Notfall.“

Ein Hamburger Student bekannte, die Öffnung der Grenze, die Entspannung zwischen Ost und West sowie die Entfernung der DDR-Regierung habe er gefeiert, aber der „Jubeltag zum Anschluss“ sei für ihn bedeutungslos. „Den Begriff ‚Nation‘ kenne ich nur aus Büchern, und ich weiß auch nicht, was so großartig an der Tatsache sein soll, dass nun ‚alle Deutschen‘ unter einer Staatsgewalt zusammengepfercht sind.“ Eine andere Hamburgerin argumentierte ähnlich: „Den Nationalstolz und das ‚Deutschsein‘ kann ich nicht verstehen. Für mich ist es Zufall, dass ich Deutsche bin und nicht Spanierin oder Amerikanerin. (…) Meiner Meinung nach hätte man auch bei zwei deutschen Staaten bleiben können. Dies hätte auch mehr dem europäischen Gedanken entsprochen.“ Rückmeldungen vor allem älterer Menschen, die das Institut auf seine Fragebögen erhielt, spiegelten dagegen schon Stolz und Freude wider, Deutscher zu sein. Aber auch sie brachten keinen ausgrenzenden und bedrohlichen Nationalismus zum Ausdruck.

Zwei Hamburger Ausländerinnen fürchteten allerdings, dass sich dies noch ändern könne: „Vor einem Deutschland muss man Angst haben, da viele Deutsche von der Geschichte nicht gelernt haben und sich darüber keine Gedanken gemacht haben. Von daher ist es immer eine Bedrohung für unsere Welt.“ Sie kritisierten auch, dass selbst seit langem in der Bundesrepublik lebende Ausländerinnen und Ausländer in die Feiern nicht einbezogen worden seien.

Die Gefahr neuer Ausgrenzungen durch die Einheit hatte in der Hamburgischen Bürgerschaft nur die GAL mehrfach thematisiert. So warnte die Abgeordnete Eva Hubert Ende April 1990: „Das aggressive Auftreten gegenüber Ausländerinnen im Rahmen dieses deutschen Vereinigungstaumels wird immer schlimmer.“ Am 7. November 1990, nach dem Scheitern des Wahlrechts für Ausländerinnen und Ausländer zu den Bezirksversammlungen in Hamburg vor dem Bundesverfassungsgericht, verlas sie in der Bürgerschaft das Zitat einer als Gastarbeiterin in die Bundesrepublik gekommenen Türkin: „‘Mich hat deshalb der Satz von Willy Brandt sehr erschrocken, dass jetzt zusammenwächst, was zusammengehört. Da wurde mir plötzlich ganz klar, wir gehören nicht dazu. Er meinte nicht die ausländischen Kinder und Jugendlichen, die im Kindergarten Bauch an Bauch mit ihren deutschen Freundinnen und Freunden Mittagsschlaf gehalten haben oder gemeinsam aufgewachsen sind. Er meinte nur die Deutschen, und wenn schon ein Mann wie Brandt so etwas sagt, was geht dann in den weniger aufgeklärten Köpfen vor?‘“ In Berlin demonstrierten rund um den 3. Oktober Türkinnen und Türken mit dem Slogan „Wir sind auch das Volk“.

1991 war die Frage des zukünftigen Charakters der Bundesrepublik weiterhin präsent und spiegelte sich in den offiziellen Aktivitäten zum ersten Tag der deutschen Einheit ebenso wie in Gegenveranstaltungen wider. Im Oktober 1991 amtierte Bürgermeister Voscherau turnusmäßig noch als Bundesratspräsident und deshalb fiel Hamburg die Ausrichtung der ersten zentralen Feier des neuen „Tages der deutschen Einheit“ zu. In der Senatskanzlei sah man bei den Planungen die Chance, sich zu profilieren und damit auch Maßstäbe für die künftigen Feiern in den Hauptstädten der anderen Bundesländer zu setzen.

Im Unterschied zum 17. Juni – dem bisher in Erinnerung an den Arbeiteraufstand in der DDR 1953 begangenen Gedenktag – sollte es keine steife „Pflichtübung“, sondern ein Bürgerfest zwischen Rathausmarkt und Alster werden, eine „freudige Feier“ mit Kultur und Musik. Hamburg sollte an diesem Tag „zu einem wirklichen Treffpunkt der neuen und alten Länder“ werden. Beabsichtigt war aber auch Raum für die Diskussion aktueller Probleme und kritischer Aspekte. Der Kommentator des „Hamburger Abendblatts“ lobte rückblickend die „neue Bescheidenheit“ und das „hanseatische Understatement“, das die Feier geprägt habe.

Nur die GAL plante wieder Gegenveranstaltungen zu der offiziellen „Abfeierei“ und wollte bei ihren Aktionen Schwerpunkte auf „Internationalismus, Antiimperialismus und Antirassismus“ legen. Die eher innenpolitisch konnotierte „soziale Frage“ sollte dagegen nicht in den Mittelpunkt gestellt werden. Unter der Überschrift „Weltmacht BRD“? fragte man unter anderem, ob die Vereinigung „zu einer Dominanz der BRD in der EG oder zu einer Verabschiedung sogar der BRD von der EG“ führe und ob trotz des deutsch-polnischen Grenzvertrags „die Bundeswehr in fünf Jahren in Königsberg“ stehen werde.

Ein Video von diesem Fest gibt es  hier →

Am Morgen des 3. Oktober 1991 fand in der Börse der Handelskammer ein Festakt statt, bei dem Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU) mit Blick auf die Ängste der Nachbarn positive Töne anschlug: Man habe im vergangenen Jahr „einen Teil des Misstrauens zerstreuen“ können. Weder habe sich die „Besorgnis nationaler Alleingänge der Deutschen bestätigt noch die These vom Ausspielen unserer ökonomischen Übermacht zum Nachteil anderer“. Die Rede Bürgermeister Voscheraus war von „Ernüchterung“ geprägt, aber sie bezog sich vor allem auf die sozialen Folgeprobleme der Einheit. Auf Ängste in Europa ging er nicht direkt ein, betonte aber, dass Einheit auch bedeute, dass „die Spuren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft … uns zum gemeinsamen Erinnern aufgetragen“ seien.

Vor dem Hintergrund gewalttätiger Proteste gegen die Unterbringung von Asylbewerbern in Hoyerswerda im September 1991 und einer darauf folgenden Welle fremdenfeindlicher Gewalttaten in der Bundesrepublikkritisierten prangerten Süßmuth und Voscherau zudem in deutlichen Worten Rassismus und Ausländerhass an. Zukunftsängste rechtfertigten nicht „Neid, neue Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit“, formulierte Voscherau. Auf der Straße demonstrierten im Rahmen der Einheitsfeier in Hamburg mehrere tausend Menschen gegen Fremdenfeindlichkeit.

Die Enttabuisierung des Nationalen nach 1989/90 mündete nicht in einen neuen deutschen Imperialismus und in Gewalt gegen europäische Nachbarstaaten. Diese Prophezeiungen auf der politischen Linken erwiesen sich rückblickend als unbegründet. Dafür setzten sich aber nationalistische und rassistische Tendenzen im Inneren fort. Sie überschatteten bereits die Einheitsfeier 1991 und fanden in den darauffolgenden Jahren mit den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und den Brandanschlägen von Mölln (1992) und Solingen (1993) mit insgesamt acht Todesopfern weitere entsetzliche Höhepunkte.

Auch in Hamburg kam es in dieser Zeit zu rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Angriffen. Wie bereits in den Jahren zuvor stand dabei besonders der Bezirk Bergedorf im Blickpunkt. Allein im ersten Halbjahr 1991 wurden dort 29 Vorfälle gezählt. Schulen und Behörden standen den Aktivitäten der seit 1989 in Lohbrügge ansässigen rechtsradikalen „Nationalen Liste“ und Skinhead-Gruppen wie der „Lohbrügge-army“ eher hilflos gegenüber.

 

 

Literatur:

Thomas Großbölting, Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989/90, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2020 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bd. 10610).

Irene Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln u.a.: Böhlau Verlag, 2011 (Alltag & Kultur, Bd. 14).

Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn: Dietz, 2006 (Willy-Brandt-Studien, Bd. 1).

Die Radikale Linke. Reader zum Kongreß vom 1.-3. Juni 1990 in Köln, hg. von der Kongreßvorbereitungsgruppe, Hamburg: Konkret-Literatur-Verlag, 1990.

Friedrich Krotz / Dieter Wiedemann (Hg.), Der 3. Oktober 1990 im Fernsehen und im Erleben der Deutschen. Texte zum Tag der deutschen Vereinigung, Hamburg: Hans-Bredow-Institut, 1991 (Forschungsberichte und Materialien des Hans-Bredow-Instituts, Bd. 12).

Themenheft: Rechte Gewalt in den 1990er Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49-50/2022 (online: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/221130_BPB_apuz_49_50_ rechte_gewalt.pdf).

 

Abbildungen:

Abb. 1: Tageszeitungen zum 3. Oktober 1990 (Quelle: Privatbesitz)

Abb. 2: Hamburg, Steinstraße, Aufsteller der Marxistische Gruppe in Hamburg, 12. November 1989 (Quelle: Wikimedia Commons, Bundesarchiv, Bild 183-1989-1112-008 / Wolfried Pätzold / CC-BY-SA 3.0)

 

 

Medien:

Am Ende des Jahrhundert – Helmut Schmidt im Gespräch mit Henning Voscherau, 24.08.1998 (ARD)