Hafen und Hinterland
Schon im Kaiserreich bezeichnete sich Hamburg selbst als „Welthafenstadt“. Seit der Zwischenkriegszeit ist das Schlagwort vom Hafen als „Tor zur Welt“ in Gebrauch. Auf Werbezeichnungen erscheint Hamburg als Knotenpunkt eines weltweit gespannten Netzes, das Hunderte von Schifffahrtsverbindungen über See nach Nord- und Südamerika, Afrika, Asien und Australien abbildet. Allerdings verbleibt ein großer Teil der Waren, die die Schiffe nach Hamburg bringen, nicht in der Stadt oder der Region, sondern wird auf verschiedenen Wegen ins sogenannte „Hinterland“ des Seehafens weiterbefördert. Auch die weltweit versandten Waren stammen überwiegend nicht aus Hamburg, sondern aus dem Hinterland. Durch die Wirtschaftsbeziehungen seines Hafens ist Hamburg also weit über seine Stadtgrenzen hinaus mit anderen Städten und Regionen verbunden.
Das Hinterland ist nur teilweise durch geographische Nähe oder Entfernung zum Hafen gekennzeichnet. Es ist also nicht einfach ein Radius von 50 oder 100 Kilometern rund um den Hafen, sondern das Hinterland kann sich über Hunderte von Kilometern ins Landesinnere erstrecken, sofern es Flüsse oder Kanäle für die Binnenschifffahrt, Eisenbahnlinien oder Autobahnen für den Warentransport gibt. Seine Grenzen können auch je nach Art der Waren oder je nachdem, ob es um Einfuhren oder Ausfuhren geht, variieren. Ändern sich die Verkehrsverbindungen eines Hafens, ändert sich eventuell auch sein Hinterland.
Zudem hat ein Hafen nicht unbedingt exklusiven Anspruch auf sein ganzes Hinterland. Oft gibt es Überschneidungen mit dem Hinterland anderer Häfen und aus diesen Überschneidungen resultiert ein Wettbewerb um Ladung: Die Häfen bemühen sich, große Firmen, Speditionen und Reedereien davon zu überzeugen, Waren über ihr Liniennetz und nicht über die Konkurrenzhäfen zu transportieren.
Das Hinterland des Hamburger Hafens umfasste im Kaiserreich und in den 1920er und 1930er Jahren innerhalb Deutschlands vor allem die Reichshauptstadt Berlin und die mitteldeutschen Industriegebiete. Innerhalb Europas spielten die Tschechoslowakei und Ungarn eine wichtige Rolle. Richtung Osten profitierte Hamburg von der Elbe, die stromaufwärts einen preisgünstigen Transport mit Binnenschiffen ermöglichte. Zum Hinterland gehörten aber auch die skandinavischen und baltischen Staaten, die durch den Nord-Ostsee-Kanal erreichbar waren. Im Ruhrgebiet sowie in Südwestdeutschland konkurrierte der Hamburger Hafen dagegen mit Bremen sowie den Häfen Antwerpen in Belgien und Rotterdam in den Niederlanden, die mit dem Rhein über eine sehr gute Verbindung zu den großen Industriezentren in West- und Süddeutschland verfügten.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 und die Teilung Deutschlands und Europas in zwei politische Blöcke bedeutete für Hamburg einen starken Einschnitt. Nun lag ein Teil des Hinterlandes hinter dem „Eisernen Vorhang“ und der Warenaustausch mit den neuen sozialistischen Staaten im Osten war sehr erschwert. Das lag an politischen Hindernissen, unterbrochenen Transportwegen und dem System der Planwirtschaft, in dem die sozialistischen Staaten nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit vom Westen strebten. Hinzu kam ein Mangel an Devisen (westlichen Währungen), um international gehandelte Waren einzukaufen. Mitte der 1930er Jahre hatte der Hamburger Hafen rund ein Drittel seines Umschlags mit Regionen erzielt, die nun östlich der Blockgrenze lagen. Mitte der 1950er Jahre trug der Warenaustausch mit ihnen nur noch rund 10 Prozent zum Gesamtumschlag bei. Politik und Wirtschaft in Hamburg klagten vor allem in den 1950er Jahren sehr über die Situation. So sprach der Hamburger Wirtschaftssenator Karl Schiller (SPD) 1952 davon, dass der Hafen nur noch auf einem Lungenflügel atme. Hatte Hamburg vor 1945 geographisch in der Mitte Europas gelegen, befand sich die Stadt nun am Rand der Bundesrepublik und Westeuropas und fürchtete, an wirtschaftlicher Bedeutung zu verlieren, während ihre Konkurrenten Bremen, Antwerpen und Rotterdam florierten. Die in den 1950er Jahren immer wieder gebrauchte Formulierung vom „natürlichen Hinterland“ legte nahe, dass der Hafen quasi ein Anrecht auf den Handel der mittel- und osteuropäischen Staaten hatte, obwohl sich die geopolitischen Rahmenbedingungen durch den Kalten Krieg verändert hatten.
Senat und Hafenwirtschaft versuchten ab den frühen 1950er Jahren, mit der neuen Situation durch wirtschaftliche und politische Strategien umzugehen, die darauf abzielten, die Verbindung zum Hinterland im Osten wiederherzustellen. Ab 1954 bezeichnete man diese Strategien als „Politik der Elbe“ – eine Politik der persönlichen Kontaktpflege über die Grenzen der politischen Systeme hinweg, die im Widerspruch zur antikommunistisch geprägten Außenpolitik der CDU-geführten Bundesregierung stand. Vertreter der Handelskammer, der HHLA und Hamburger Firmen besuchten Messen in Mittel- und Osteuropa und warben mit aufwändig gestalteten Messeständen und auf „Hafenabenden“ für den Hafen. 1957 schloss die Stadt sogar eine Städtepartnerschaft mit der sowjetischen Hafenstadt Leningrad ab. Ab den 1960er Jahren reisten auch Wirtschaftssenatoren und Bürgermeister in den Osten.
In den 1970er und 1980er Jahren sahen sich Hamburger Politiker mit der „Politik der Elbe“ als Vorreiter der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung und intensivierten die Kontakte mit hochrangigen Besuchen und mehrtägigen Wirtschaftstreffen u.a. in Warschau, Prag, Budapest und Leningrad. 1981 reiste mit Hans-Ulrich Klose (SPD) erstmals ein Erster Bürgermeister offiziell zur Leipziger Messe in die DDR.
Wirtschaftlich war die „Politik der Elbe“ im östlichen Hinterland des Hafens allerdings nur bedingt erfolgreich: Zwar stieg der Gesamtumschlag im Hamburger Hafen seit den 1950er Jahren an und lag 1980 bei über 60 Millionen Tonnen. Die CSSR hatte daran aber nur einen Anteil von rund 3 Millionen Tonnen, Ungarn lag bei 0,7 Millionen Tonnen und der Transithandel mit Polen erreichte nie mehr als 0,15 Millionen Tonnen. In den 1980er Jahren, dem letzten Jahrzehnt vor dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, ging der Umschlag mit allen mittel- und osteuropäischen Staaten aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Planwirtschaften sogar weiter zurück.
Neben der Wiederanknüpfung der wirtschaftlichen Beziehungen Richtung Osten bemühte sich der Hamburger Senat seit den 1950er Jahren auch darum, die Hinterlandanbindung des Hafens Richtung Westen und Süden zu verbessern. Von der Bundesregierung forderte er, das Autobahnnetz zu vergrößern, Eisenbahnstrecken auszubauen und zu elektrifizieren und das Kanalnetz für die Binnenschifffahrt zu erweitern. Hierbei ging es aber nur langsam voran und Hamburg klagte immer wieder darüber, dass die Bundesregierung auf den Standortnachteil der Stadt an der Nahtstelle der beiden politischen und wirtschaftlichen Blöcke zu wenig Rücksicht nehme. Große Neubauprojekte wie die Köhlbrandbrücke im Hafen (1974), der Neue Elbtunnel für den Auto- und LKW-Fernverkehr (1975), der Elbe-Seitenkanal für Binnenschiffe (1976) und der Rangierbahnhof Maschen (1977) für den Güterverkehr auf der Schiene kamen erst in den 1970er Jahren zum Abschluss. Im November 1982 wurde zudem mit der A 24 eine neue Transitautobahn von Hamburg nach West-Berlin fertiggestellt.
In den 1980er Jahren hatte sich Hamburg mit seiner „Randlage“ weitgehend abgefunden, zumal das Hinterland im Osten für den Warenumschlag im Hafen an Bedeutung verloren hatte und stattdessen die anderen westdeutschen Bundesländer, die Europäische Gemeinschaft und Skandinavien als Handelspartner stark an Gewicht gewonnen hatten.
Der Fall der Berliner Mauer im November 1989, die Wiedervereinigung Deutschlands im Oktober 1990 und der Zerfall des Ostblocks veränderten dann aber die geopolitische Position Hamburgs erneut: Sie ermöglichten der Stadt und dem Hafen die „Rückkehr in die Zentralität Europas“, wie der Erste Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) bereits im Dezember 1989 formulierte. Politik und Wirtschaft in Hamburg bejubelten die weltpolitische Wende und sahen sich als die Gewinner dieser ganz unerwarteten Entwicklung. Tatsächlich intensivierte sich der Handel durch den Nachholbedarf an Investitionsgütern für die marode Wirtschaft und an modernen Konsumgütern für die privaten Haushalte im Osten erheblich und der Hamburger Hafen profitierte davon. Ein immer größerer Teil der Waren wurde dabei aus China und anderen asiatischen Ländern geliefert.
Der Gesamtumschlag im Hafen stieg von 61,1 Mio. Tonnen 1990 über 72,2 Mio. Tonnen 1995 und 85,9 Mio. Tonnen 2000 auf 125,9 Mio. Tonnen im Jahr 2005. Der Güterverkehr über See mit Europa – West- und Osteuropa zusammen – stieg von 29,7 Mio. Tonnen 1990 auf 52,3 Mio. Tonnen 2005. Im Osten stachen einzelne Länder besonders hervor: So verfünffachte sich die Durchfuhr über den Hamburger Hafen von und nach Polen innerhalb von 15 Jahren (1990: 263.000 Tonnen, 1995: 613.000 Tonnen, 2000: 853.000 Tonnen, 2005: 1.261.000 Tonnen). Für die Sowjetunion betrug die Durchfuhr 1990 auf dem Land- und Seeweg insgesamt nur 98.000 Tonnen. 1995 lag die Durchfuhr für die – kleinere – Russische Föderation bereits bei 193.000 Tonnen und 2005 betrug der Warenumschlag insgesamt 1,88 Mio. Tonnen. 2021 standen im besonders wichtigen Containerumschlag Russland (337.500 TEU) an vierter und Polen (236.600 TEU) an siebter Stelle der Partnerländer des Hafens, wenn auch mit weitem Abstand zu den führenden Ländern China (2,56 Mio. TEU) und USA (617.400 TEU).
Die Entwicklung Hamburgs vor und nach 1989/90 zeigt, dass das Hinterland eines Hafens nicht „natürlich“ gegeben ist, sondern von äußeren politischen und verkehrstechnischen Faktoren beeinflusst werden kann. Nach 1945 empfand sich Hamburg als Opfer des Kalten Kriegs, weil seine Hafen-Konkurrenten im Westen von der Teilung Europas kaum betroffen waren. Das Hinterland Bremens, Rotterdams und Antwerpens erstreckte sich nicht in gleicher Weise bis nach Osteuropa. Nach 1990 gehörten Stadt und Hafen dann zu den wirtschaftlichen Gewinnern der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas, weil der Hafen seine Mittlerstellung im internationalen Handel zwischen West und Ost wieder uneingeschränkt wahrnehmen konnte.
Bildnachweise:
Abb. Slider: Ein 3,5 m hoher Stahlhohlkasten wird per Schwimmkran während des Baus der Brücke eingehoben (1973) (Quelle: IZW-Medienarchiv der Bundesanstalt für Wasserbau, Wikimedia Commons, CC BY 4.0)
Abb. 1: Hinterlandverbindungen des Hamburger Hafens, 2012 (in: Hamburg hält Kurs. Der Hafenentwicklungsplan bis 1925, Hamburg 2012, S. 11 – (c) Hafen Hamburg Marketing, mit freundlicher Genehmigung von Hafen Hamburg Marketing); Abb. 2: Anteile des westlichen und östlichen Hinterlandes am Gesamtumschlag des Hafens 1936-1964 (in: Hafen Hamburg 1945-1965. Zwanzig Jahre Aufbau und Entwicklung, hrsg. von der Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Hamburg 1965, S. 19 – mit freundlicher Genehmigung der Hamburg Port Authority); Abb. 3: Erster Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (1978) (Quelle: Wikimedia Commons, Bundesarchiv, B 145 Bild-F055059-0030 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0 de); Abb.4 : Ein 3,5 m hoher Stahlhohlkasten wird per Schwimmkran während des Baus der Brücke eingehoben (1973) (Quelle: IZW-Medienarchiv der Bundesanstalt für Wasserbau, Wikimedia Commons, CC BY 4.0); Abb. 5: Hafen Hamburg: Marktanteil und Modal Split nach Hinterlandregionen, 2008 (in: Prognose des Umschlagpotenzials des Hamburger Hafens für die Jahre 2015, 2020 und 2025, Bremen: Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik, 2010, S. 18 – mit freundlicher Genehmigung des Instituts für Seeverkehrswirtschaft und Logistik).