Störtebeker – vom Taugenichts zum Mythos

Dominik Kloss

Die Hamburgische Geschichte des Späten Mittelalters und auch noch der Frühen Neuzeit ist auch eine Geschichte zahlreicher Handelsfahrten über die Elbe, die Nordsee und noch weiter entfernte Meere. Daher ist es auch nicht erstaunlich, dass man in der Überlieferung dieser Epochen immer wieder von Piratenüberfällen auf Hamburger Schiffe lesen kann und – neben den zu Hunderten gefangengenommenen und hingerichteten Namenlosen – auch eine ganze Reihe Seeräuber namentlich kennt. Von ihnen muss Klaus Störtebeker sicherlich als der bekannteste gelten.

Das Störtebeker-Denkmal am Magdeburger Hafen, unweit der Speicherstadt

Geschichten um sein Leben aber auch um seine Hinrichtung kursieren schon seit Jahrhunderten und wurden schon im 16. Jahrhundert in einem Lied verarbeitet. Auch Abbildungen von Störtebeker gibt es schon sehr lange, wobei es aber offenbar schon früh zu Verwechslungen kam. Heute spielt Störtebeker in Romanen, Filmen und Musikstücken eine Rolle. Auf der Insel Rügen finden sogar „Störtebeker-Festspiele“ statt und eine Stralsunder Brauerei hat sich vor einigen Jahren nach dem Seeräuber umbenannt.

In Hamburg ist ihm am ungefähren Ort seiner Hinrichtung – heute steht hier der neue Stadtteil Hafencity – sogar ein Denkmal errichtet worden. Die Beliebtheit hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass der Seeräuber heutzutage nicht nur als grausam, sondern auch als ein edelmütiger und wohltätiger Mann gilt, der etwa seiner Mannschaft große Anteile seiner Beute abgetreten haben soll. Die historische Figur Klaus Störtebeker ist allerdings sehr viel schwerer zu fassen und muss in ihrem zeitlichen Umfeld gesehen werden.

Im Jahr 1375 löste der Tod des dänischen Königs Waldemar IV. einen langwierigen Streit um seine Nachfolge aus. Weil Waldemars Tochter Margarethe I. zusätzlich die Herrschaft über Schweden erlangen wollte, geriet sie in Konflikt mit Herzog Albrecht von Mecklenburg.

Auch jener hatte Ansprüche auf die schwedische Königskrone, war aber nicht so einflussreich wie Margarethe. Um vor allem Margarethes Handelswege zu stören, rief Albrecht  Adlige aus seinem Herrschaftsgebiet dazu auf, zusammen mit Seeleuten aus seinen Hafenstädten dänische Schiffe zu überfallen. Zahlreiche dieser Kaperfahrer, also in den Diensten eines Landesherrn stehende oder zumindest von diesem geduldete Seeräuber, unternahmen in den Jahren um 1390 von Wismar und Rostock aus solche Raubzüge. Sie verstanden sich als Ritter zur See im Dienste ihres Herzogs. Aus mecklenburgischer Sicht führten sie eine gerechte Fehde zur See. Während zunächst die Anführerschaft aus Adligen bestant, übernahmen bald Kapitäne unterschiedlicher Herkunft die Freibeuterei. Weil sie sich dabei größtenteils selbst mit Vitalien (ein alter Begriff für Lebensmittel) versorgten, wurden sie unter dem Namen Vitalienbrüder schnell bekannt. Einen Namen machten sie sich auch durch überraschende Aktionen wie die Versorgung der von Margarethe belagerten Stadt Stockholm durch eine kleine Flotte im Winter 1393/1394.

Der Seeraub war offenbar so einträglich, dass die Vitalienbrüder auch dann noch weitermachten, als im Jahr darauf ein Frieden zwischen Margarethe und Albrecht geschlossen wurde. Noch bis 1398 unternahmen sie ihre Überfälle. Sie hatten jetzt eine Basis auf der von der mitten in der Ostsee gelegenen Insel Gotland und überfielen nicht mehr nur dänische Handelsschiffe, sondern auch solche der Hanse. Von einer mit der Hanse verbündeten Streitmacht des Deutschen Ordens wurden sie 1398 aus der Ostsee und von Gotland vertrieben und flüchteten auf die Nordsee.

Hier fanden die Vitalienbrüder vor allem in Friesland zahlreiche Unterschlüpfe, denn die teilweise untereinander verfeindeten friesischen Häuptlinge konnten im Krieg erfahrenen Söldner als Verbündete vor Ort gut gebrauchen. Daneben gab es auch in der Nordsee Gelegenheit, Handelsschiffe zu überfallen. Neben Bremen war hierdurch besonders Hamburg beeinträchtigt. Unterstützt von anderen Hansestädten versuchten die Hamburger im Frühjahr des Jahres 1400 zunächst, die friesischen Häuptlinge zur Auslieferung der Vitalienbrüder zu bewegen. Als das scheiterte, waren Hamburg und Lübeck schnell dazu bereit, eine starke Kriegsflotte auszurüsten, um die Piraten selbst zu verfolgen und ihnen den Prozess zu machen. Die Hamburger besaßen zu diesem Zweck sogar schon seit 1359 ein kaiserliches Privileg.

Auch weil ihnen einige friesische Häuptlinge den Hansestädtern  jetzt doch halfen (um ihre jeweiligen Konkurrenten zu schwächen), konnten die Hamburger und Lübecker bis zum Mai 1400 eine größere Anzahl Seeräuber gefangen nehmen und einige ihrer Stützpunkte zerstören. Doch ein Großteil der Vitalienbrüder konnte wieder fliehen. Einige, darunter ihr bedeutendster Anführer Goedeke Michels, wichen bis nach Norwegen aus. Andere suchten einfach bei benachbarten Landesherren Schutz, so etwa bei Konrad von Oldenburg oder Albrecht von Holland. Zumindest letzterer hatte selbst keine freundschaftlichen Beziehungen zu den Hamburgern und nutzte die Seeräuber jetzt für seine Zwecke, indem er sie nach Helgoland schickte. Von hier aus ließen sich weiterhin Hamburger Handelsschiffe auf ihrem Weg von oder nach England überfallen.

Störtebekers Ankunft als Gefangener in Hamburg, wie man sie sich im 19. Jahrhundert vorstellte

Deshalb rüsteten die Hamburger im Spätsommer 1400 noch ein zweites Mal Kriegsschiffe unter der Führung zweier Ratsherren aus, um die von Helgoland ausgehende Bedrohung zu unterbinden. Die erfolgreiche Gefangennahme von fast 80 Vitalienbrüdern und die anschließende (wohl noch im Oktober 1400 erfolgte) Hinrichtung von knapp der Hälfte davon konnten die Hamburger dann als alleine errungenen Erfolg verbuchen.

Im Folgejahr konnte zudem der aus Norwegen zurückgekehrte Goedeke Michels mit seiner Mannschaft nach einer Verfolgungsjagd auf der Unterweser ebenfalls gefangengenommen und in Hamburg hingerichtet werden.

Damit scheint für die nächsten Jahrzehnte das Seeräuberunwesen auf der Nordsee zunächst unter Kontrolle gebracht worden zu sein. Zwar unternehmen die Hamburger in den 1430er Jahren noch eine Reihe von Kriegsfahrten gegen die friesischen Häuptlinge, Kämpfe gegen namhafte Piraten lassen sich aber erst wieder im frühen 16. Jahrhundert (und danach in der Nordsee nicht mehr) in den Quellen finden.

Wenn Klaus Störtebeker die ersten Jahre des Seeraubes in der Ostsee bereits mitgemacht hat, dann ist davon allerdings nichts überliefert. Erst für die Zeit auf der Insel Gotland nach 1395 ist er als einer der Anführer der Piraten benannt – wahrscheinlich noch Goedeke Michels untergeordnet.

Es ist aber gut möglich, dass er sich schon früh den Piraten angeschlossen hat, denn im Jahr 1380 wird ein Nicolaus (wovon Klaus eine mögliche Kurzform wäre) Störtebeker wegen einer Schlägerei aus der Stadt Wismar ausgewiesen. Vielleicht hatte er sich bei dieser Gelegenheit den Vitalienbrüdern angeschlossen, sich bei diesen aber zunächst nicht hervorgetan. Spätestens auf der Nordsee muss er dann aber zu den Hauptleuten der Seeräuber gehört haben, die zumindest ein Schiff mitsamt seiner Besatzung befehligten. Und er dürfte dabei auch die Gelegenheit gehabt haben, einige Reichtümer anzuhäufen. Denn auch wenn die restliche Mannschaft sich ihre Beute aufgeteilt haben mag, so hatte der Schiffsführer stets das Vorrecht auf einen großen Anteil an den geplünderten Gütern.

Störtebeker war dann auch derjenige, der mit der Unterstützung des Grafen von Holland die Überfälle auf Hamburger Schiffe von Helgoland aus befehligte und dort dann letztlich gestellt wurde. Dennoch scheint er zu Lebzeiten noch nicht die Bekanntheit erlangt zu haben, wie einige Jahre oder Jahrzehnte nach seinem Tod. So heben etwa die Hamburger Kämmereirechnungen bei der Auflistung der Unkosten für den Henker und die Bestattung keinen prominenten Namen hervor. Das hätte man bei einem später als so wichtig geltenden Sieg eigentlich erwarten dürfen.

Dass Klaus Störtebeker dann anders als sein zu Lebzeiten wohl bekannterer Kollege Goedeke Michels so viele Sagen und Legenden auf sich zog, mag auch an seinem exotischen Nachnamen gelegen haben. Der wies eigentlich wohl nur auf ein Handwerk hin, konnte aber durch die volkstümliche Übersetzung („Stürz den Becher!“) leicht zu einem besonderen Trinkvermögen seines Trägers umgedichtet werden.

Ein zum 300-jährigen Jubiläum der Hinrichtung der Vitalienbrüder herausgegebenes Flugblatt zeigt auch die abgeschlagenen und aufgenagelten Köpfe der Piraten (links oben)

 

Etwas von den Legenden um den Tod des Seeräubers lebt auch noch in einem archäologischen Fund fort, den man heute im Museum für Hamburgische Geschichte finden kann.

Einer der beiden Schädel im Museum für Hamburgische Geschichte

Ausgestellt sind hier die Reste zweier Schädel, die man im Jahr 1878 auf dem Grasbrook gefunden hatte, also dem Ort, wo man im Späten Mittelalter dutzende Piraten und andere Missetäter geköpft hat. Die abgeschlagenen Piraten-Köpfe hatte man ursprünglich zur Abschreckung mit langen Eisennägeln auf Holzbalken genagelt, wovon noch alte Darstellungen zeugen.

Weil auch die beiden erhaltenen Schädel noch Spuren dieser Hinrichtungsart zeigen, gehörten auch sie mit einiger Gewissheit zu Piraten-Köpfen, die man auf diese Weise präsentieren wollte. Durch weitere Untersuchungen konnte man inzwischen feststellen, dass die Schädel mit einer hohen Wahrscheinlichkeit im späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert unter die Erde kamen. Es ist also gut möglich, dass die Knochen ehemals in Hamburg hingerichteten Hauptleuten der Vitalienbrüder gehörten. Ob man hier aber Störtebekers Schädel oder den eines anderen, vielleicht heute nicht mehr so berühmten Piraten sehen kann, kann man heute nicht mehr sicher sagen.

 

Grundlegende Literatur:

Klaus Störtebeker. Ein Mythos wird entschlüsselt, hg. v. Ralf Wiechmann, Günter Bräuer und Klaus Püschel, München 2003.

Pelc, Ortwin: Seeräuber auf der Nord- und Ostsee. Wirklichkeit und Mythos, Heide 2005 (Kleine Schleswig-Holstein-Bücher; Bd. 56).

Puhle, Matthias: Die Vitalienbrüder. Klaus Störtebeker und die Seeräuber der Hansezeit, Frankfurt am Main ³2012.

Störtebeker – 600 Jahre nach seinem Tod; Kolloquium Wilhelmshaven 2002, hg. v. Wilfried Ehbrecht, Trier 2005 (Hansische Studien; Bd. XV).      

Zimmerling, Dieter: Störtebeker & Co. Die Blütezeit der Seeräuber in Nord- und Ostsee, Augsburg ²1997.

 

Bildnachweise:

Abb. Titelfeld: Grasbrook mit Hinrichtungstätte auf der Lorichsschen Elbkarte, Segment C0008471 (Ausschnitt), Staatsarchiv Hamburg, StAHH.

Abb. Thementext: Störtebeker-Denkmal von Hansjörg Wagner, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:St%C3%B6rtebeker_Statue_(Hamburg).JPG?uselang=de) / Störtebekers Ankunft in Hamburg, Holzstich von Karl Gehrts, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stoertebeker2.jpg) / Flugblatt von 1701, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_241-05=1685.003 / „Störtebeker-Schädel“ im MHG, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sch%C3%A4del_Hingerichteter_Hamburg.jpg).