Reiner Lehberger
Seit Mitte der 60er Jahre war das Bildungswesen der Bundesrepublik in die Kritik geraten. Die Leistungsstandards der mittleren und höheren Bildung schienen den ökonomischen Erfordernissen nicht mehr angemessen zu sein. Darüber hinaus wurde die fehlende Ausschöpfung der „Begabungsreserven“, d.h. die Benachteiligung sozialer Gruppen (Arbeiterkinder, Mädchen) durch das Bildungssystem beklagt, und schließlich wurde für das Jahr 1970 ein Fehlbestand von 50.000 LehrerInnen prognostiziert.
Der von Georg Picht 1964 geprägte Begriff von der „Bildungskatastrophe“ wurde zu einem Schlagwort in der bildungspolitischen Debatte.
Bereits 1964 hatte sich auch mit dem Hamburger Abkommen der Bundesländer zur Vereinheitlichung des Schulwesens ein neues, wenn auch eingeschränktes staatliches Reformbemühen abgezeichnet. Durch das Abkommen war bundesweit die neunjährige Schulpflicht eingeführt und die Oberstufe der Volksschule zur Hauptschule reformiert worden. Mit zwei Kurzschuljahren wurde die Verlegung des Schuljahresbeginns von Ostern auf den 1. August verwirklicht.
Als bedeutender Ideengeber für eine Reformierung des Schulwesens sollte sich der 1965 gegründete „Deutsche Bildungsrat“ – ein beratendes Gremium für Schulentwicklung – erweisen. 1970 legte der Bildungsrat einen „Strukturplan für das Bildungswesen“ vor, der insbesondere die Chancengleichheit, die Durchlässigkeit der Systeme und eine stärkere Verzahnung der Bildungsgänge forderte. Ein im gleichen Jahr vom Hamburger Senat vorgelegter „Bildungsbericht“ war stark an dem „Strukturplan“ des Deutschen Bildungsrates orientiert. Sein wichtigster Punkt war die „langfristige Einführung der Gesamtschule“ als der „optimalen Form“ der neuen Schulstruktur.
Vorangegangen waren 1968/69 die Einführung der ersten integrierten Gesamtschule am Alten Teichweg sowie der ersten kooperativen Gesamtschule, der Heinrich-Hertz-Schule. Als Begründungen wurden die bessere Ausschöpfung der Bildungsreserven („Demokratische Leistungsschule“) sowie der Abbau von Bildungsbarrieren („Chancengleichheit“) benannt.
Allerdings hatte man in Hamburg schon zuvor Erfahrungen mit gesamtschulartigen Systemen gesammelt. Seit 1950 gab es in der Albert-Schweitzer-Schule eine gemeinsame Beschulung bis Klasse 9, an der Peter-Petersen-Schule in Wellingsbüttel wurden seit 1951 Volks- und gymnasiale Schüler gemeinsam bis Klasse 8 unterrichtet. Von 1953 bis 1961 hat es darüber hinaus in der Albrecht-Thaer-Schule eine additive Gesamtschule gegeben, d.h. voneinander getrennte Volksschul-, Mittelschul- und Gymnasialklassen im Verbund einer Schule. Mit der Novellierung des Hamburger Schulgesetzes im Jahre 1977 begann für die Gesamtschulentwicklung eine neue Phase. So wurde den Eltern das Wahlrecht für die Schulform ihrer Kinder übertragen und dem Gesetz eine Präambel vorangestellt, in der die Entwicklung zu einem „integrierten Schulsystem“ als Zielvorstellung benannt wird. Schließlich wurde 1979 die Gesamtschule als Regelschule festgeschrieben.
Mit der Einführung des Wahlrechts der Eltern erfolgte bis 1981 geradezu ein Gründungsboom von 16 neuen Gesamtschulen. Nach 1987, dem Jahr, da die oben erwähnte Präambel auf Druck der FDP wieder gestrichen wurde, entstanden nochmals 13 weitere Schulen. Das Ergebnis ist eine flächendeckende Versorgung mit Gesamtschulen im Stadtstaat Hamburg.
Hamburg hat faktisch seit der Einrichtung der Gesamtschule als Regelschule (1979) ein viergliedriges, rechnet man die Sonderschulen hinzu, ein fünfgliedriges Schulsystem.
Neben der Einführung der Gesamtschule als sicher herausragendem strukturellem Eingriff der letzten Jahrzehnte in das Schulsystem müssen darüber hinaus seit 1965 benannt werden:
- die Einführung der Fünftagewoche (seit 1970);
- die flächendeckende Einführung der Koedukation (als letzte Schule führte 1982 die katholische Sophie-Barat-Schule die Koedukation ein);
- die Abschaffung der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium und deren Ersetzung durch die Empfehlung der Grundschule (1968);
- die Einführung integrierter Haupt- und Realschulklassen (1991);
- die Einführung der Integration von SchülerInnen mit Behinderung ins Regelschulwesen (1983);
- die Einführung der Verlässlichen Halbtagsgrundschule (flächendeckend im Schuljahr 1999/2000);
- die Verkürzung der Schulzeit von 9 auf 8 Jahre am Gymnasium bis zum Abitur (2002).
Auszug aus: Lehberger, Reiner; deLorent, Hans-Peter: Schulen in Hamburg – Ein Führer durch Aufbau und Geschichte des Hamburger Schulwesens, Hamburg 2012.
Bildnachweise:
Abb. Titelfeld: Haupteingang Schule Alter Teichweg (Ausschnitt) © Ajepbah / Wikimedia Commons / Lizenz: CC-BY-SA-3.0 DE, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schule_Alter_Teichweg_(Hamburg-Dulsberg).Eingang.22669.ajb.jpg).
Abb. Thementext: Flugblatt zum Teach-In 1969, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_283-5=01_1969_02 / Haupteingang Schule Alter Teichweg © Ajepbah / Wikimedia Commons / Lizenz: CC-BY-SA-3.0 DE, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schule_Alter_Teichweg_(Hamburg-Dulsberg).Eingang.22669.ajb.jpg).