Die antisemitische Welle 1959/1960

Marc-Simon Lengowski  [1]

Die Hakenkreuz-Schmierereien von Köln

Zum Jahresausklang 1959 kannte die westdeutsche Presse fast nur ein Thema: die Hakenkreuz-Schmierereien an der Kölner Synagoge. In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember schändeten zwei junge Rechtsextreme das Gotteshaus mit dem Spruch „Deutsche fordern Juden raus“ und roten Hakenkreuzen. Zusätzlich beschmierten die Täter die Inschrift eines nahe gelegenen Mahnmals für Opfer der Gestapo.

Bereits am ersten Weihnachtsfeiertag konnte die Polizei den Bäckergesellen Arnold Strunk und seinen Mittäter Paul Schönen (beide 25 Jahre alt) festnehmen. Ausschlaggebend war ein Tipp des Kölner Kreisvorsitzenden der Deutschen Reichspartei (DRP) gewesen, der die beiden angehörten. Hastig distanzierte sich die DRP-Führung von den Tätern, schloss sie noch am zweiten Weihnachtsfeiertag aus der Partei aus und löste sicherheitshalber gleich den ganzen Kreisverband Köln auf. Offenbar fürchtete die Spitze der von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern geführten Rechtsaußen-Vereinigung ein Parteiverbot, wie es die Sozialistische Reichspartei sieben Jahre zuvor ereilt hatte.

Diese Befürchtung hatte zumindest teilweise ihre Berechtigung. Denn das mediale Echo auf die Synagogenschändung war ungewohnt laut. Tagelang berichteten die großen Tageszeitungen von jeder neuen Entwicklung, und auch lokale Blätter griffen die Geschichte begierig auf. Dabei handelte es sich bei Weitem nicht um den ersten Vorfall dieser Art in der Geschichte der noch jungen Bundesrepublik. Noch zu Beginn des Jahres 1959 war es in Freiburg und Düsseldorf zu ganz ähnlichen Taten gekommen, die aber keine vergleichbare Berichterstattung ausgelöst hatten.

Eine unerwartete Folge der ausgeprägten Berichterstattung war, dass es zu einer Welle von Nachahmungstaten kam. Diese Entwicklung offenbarte eine neue Qualität im „latenten Antisemitismus“ (Hans Gathmann) der frühen Bundesrepublik und mündete in eine beispiellose Häufung von antisemitischen Schmierereien, Pöbeleien und Angriffen. Innerhalb etwa eines Monats, also bis zum 28. Januar 1960, kam es bundesweit zu 685 Nachfolgetaten, von denen 123 in Westberlin verübt wurden. Allein am 7. Januar, dem Höhepunkt der Welle, wurden 58 Taten gemeldet.

Die Taten selbst unterschieden sich gegenüber dem „Vorbild“ teilweise deutlich: Lediglich 36 der Verbrechen wurden an Kirchen, Friedhöfen oder Denkmälern verübt. Zwölf Mal waren staatliche Behörden das Ziel. Auffällig ist, wie sehr die Berichterstattung persönliche Beleidigungen auslöste. In den genannten Straftaten sind 66 Fälle von direkter Beschimpfung, Verunglimpfung und Beleidigung enthalten, womit sie sich im Gegensatz zur Tat von Köln gegen konkrete Individuen richteten. In vielen Fällen spielte Trunkenheit eine Rolle.

Die Bundesregierung, erkennbar um Schadensbegrenzung bemüht, teilte diese Nachahmungstaten in Kategorien ein. Alleine 215 Schmierereien stufte sie dabei als „Kinderkritzeleien“ ein. Dafür reichte es, wenn die Schmierereien „nach Art und Ausführung offensichtlich von Kinderhand“ stammten – die Entscheidung darüber traf die Polizei (Weißbuch, S. 45). Ihr zufolge hätten sich Kinder durch die Presseberichterstattung inspiriert gefühlt, selbst solche Symbole auf Spielplätzen, Autoscheiben oder in Schulen anzubringen.

Bei diesen Zahlen gilt es zu beachten, dass der Auswertungszeitraum im Januar endete, obwohl die Bundesregierung bis Mitte Februar weitere 148 Taten meldete und sich die antisemitische Welle bis ins Frühjahr 1960 zog. Infolge der internationalen Berichterstattung kam es auch außerhalb der Bundesrepublik zu Nachfolgetaten, wie in Israel oder den USA.

Auch die Hamburger Presse berichtete im Januar 1960 umfassend über die antisemitische Welle. Trotz der grundsätzlich umfangreichen Berichterstattung gab es aber in den auflagenstarken Tageszeitungen, der Hamburger Morgenpost und dem Hamburger Abendblatt, nur zwölf Artikel über Vorfälle in der Stadt selbst. Dem Urteil des Historikers Axel Schildt, dass ein damaliger Hamburger angesichts dieser Berichterstattung den falschen Schluss ziehen musste, die Welle habe sich „meist fern der Heimatstadt vollzog[en]“, ist also zuzustimmen (Schildt, S. 317). Dabei war die Hansestadt keineswegs verschont geblieben. Die Hamburger Kriminalstatistik erfasste trotz einiger ungenauer Angaben mindestens 123 Vorfälle, von denen die meisten wie andernorts im Januar festgestellt wurden. Bis zum 31. Januar 1960 wurden 36 Verdächtige ermittelt. Die letzten neuen Fälle wurden in Hamburg noch im Mai desselben Jahres verzeichnet.

Die Taten selbst entsprachen denen, die aus dem „Weißbuch“ bekannt sind: Schmierereien, Beleidigungen und sogar verbale Ausfälle gegenüber der Polizei. Die Strafurteile fielen in Hamburg wie auch bundesweit drakonisch aus. Ein 38-jähriger Kraftfahrer, der in einer Kneipe betrunken „Heil Hitler“ rief und einer jüdischen Kundin gegenüber drohte, er habe noch zwei geschliffene Messer zu Hause, wurde für neun Monate ohne Bewährung inhaftiert. Auf die Möglichkeit einer Bewährungsstrafe verzichtete ein Hamburger Gericht auch im Falle eines Taxifahrers, der im Rahmen eines Streits über Fahrverhalten im Straßenverkehr sein Gegenüber antisemitisch beleidigt hatte. Er wurde zu sechs Wochen Haft verurteilt. Nicht nur das Ausmaß der Urteile überrascht bei den meist nicht vorbestraften Tätern, sondern auch die Geschwindigkeit, in der sie gefällt wurden. So wurde der Kraftfahrer bereits zehn Tage nach der Tat verurteilt. Die omnipräsente Berichterstattung und die Ankündigung zahlreicher Politiker, Täter würden hart bestraft, scheinen hier Druck auf die Justiz ausgeübt zu haben. Schließlich kam es unter dem Eindruck der Welle im Sommer 1960 sogar zur Verabschiedung des schon länger vorliegenden Gesetzesentwurfs zur Volksverhetzung und zu einer Neufassung des Straftatbestands der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole.

Abseits der strafrechtlichen Verfolgung gab es in Hamburg nur zwei größere Reaktionen. Zum einen störten zumeist jugendliche Gegendemonstranten am 18. Januar massiv die Reichsgründungsfeier der DRP, die nach einer Bombendrohung sogar abgebrochen werden musste. Zumindest im öffentlichen Urteil war es der DRP also nicht gelungen, sich wirkungsvoll von den Taten ihrer ehemaligen Mitglieder Strunk und Schönen zu distanzieren. Zum anderen gab es eine Kundgebung des Hamburger Jugendrings mit 10.000 Teilnehmenden auf dem Friedhof Ohlsdorf am Abend des 29. Januar, bei der auch der Erste Bürgermeister Max Brauer eine Rede hielt. Zur Teilnahme an der Veranstaltung hatten neben anderen auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Verfolgtenorganisation „Notgemeinschaft der von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen“ aufgerufen.

Das Ende der öffentlichen Beschäftigung mit der antisemitischen Welle in Hamburg war mit der Haushaltsdebatte in der Bürgerschaft im März 1960 erreicht. Der Kultursenator Hans Harder Biermann-Ratjen erwähnte sie in seiner Rede ganz am Rande. Dabei vertrat er den Standpunkt, in Hamburg habe es nur wenige schlimme Fälle gegeben. Die gesamte Welle deutete er als Imageschaden für die Bundesrepublik und betonte unter Bezug auf das „Weißbuch“ den angeblich unpolitischen Charakter der meisten Taten. Er schloss seine Rede mit einer Aufforderung zu mehr „Brüderlichkeit“ und „Menschlichkeit“. Hier zeigte sich eine der gängigen damaligen Interpretationen der antisemitischen Welle: Die Gesamtzahl wurde heruntergespielt, sodass in einem Meer von Nachahmungstaten ohne politischen Hintergrund nur wenige „echte“ Straftaten verblieben, die noch dazu vor allem dem deutschen Ansehen in der Welt schadeten. Es dauerte allerdings, bis sich diese Interpretation als mehrheitsfähig herauskristallisierte.

Die Initialtat hatte einen rechtsextremen, demokratiefeindlichen und antisemitischen Hintergrund, den niemand bestritt. Dies stützte sich nicht nur auf die Mitgliedschaft der Täter in der DRP und ihre Aussagen über das Judentum und die Bundesrepublik, sondern auch auf die zahlreichen antisemitischen Schriften und NS-Devotionalien, die in Strunks Wohnung gefunden wurden. Entsprechend richteten sich die ersten Reaktionen gegen rechts: Es wurden Partei- und Organisationsverbote geprüft, von denen später aber nur das gegen den „Bund nationaler Studenten“ durchgesetzt wurde. Als sich die Nachfolgetaten verselbstständigten, bot Bundeskanzler Konrad Adenauer eine weitere Interpretation an: Bei den Nachfolgetätern handele es sich um „Lümmel“, die „eine Tracht Prügel“ verdient hätten, die am besten jeder Deutsche sofort an Ort und Stelle verabreichen möge. Dieser Versuch, die Taten herunterzuspielen, diente der Beruhigung besonders des westlichen Auslands. Mit ihm sollte dem Eindruck entgegengewirkt werden, die Nachfolgetaten seien ebenfalls von überzeugten Nationalsozialisten begangen worden.

Gerade die öffentliche Meinung in Großbritannien und den USA aber wollte dieser Wendung nicht folgen. Dort interpretierte man die antisemitische Welle eher als Symptom der nicht bewältigten NS-Vergangenheit, also nicht als ein marginales Problem an den Rändern der deutschen Gesellschaft, sondern als Handlungsdefizit in ihrer Mitte. In dieser Situation griff die Bundesregierung zu einer zuvor nur halbherzig verfolgten dritten Deutung der Welle: Es handele sich nicht um die Taten von Neonazis oder um Dummejungenstreiche, sondern um das Ergebnis kommunistischer Infiltration und Agitation, die die Bundesrepublik international diskreditieren solle. Besonders Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß und das „Weißbuch“ vertraten diese Position. Obwohl die angeblich kommunistische Steuerung der Vorfälle immer wieder durch die Medien und auch die Geschichtswissenschaft geistert, gilt sie doch als unwahrscheinlich.

Unabhängig von den Motiven der Nachfolgetäter stellten sich im Januar die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft eindeutig gegen die Taten. Die politischen Vertreter stützten dies mit zahlreichen symbolpolitischen Akten, wie Kranzniederlegungen und der Teilnahme an Demonstrationen. Besonders diese Verhaltensweisen habitualisierten sich über die Jahre. Mit den ersten (harten) Strafurteilen beruhigte sich die Lage langsam und Bemühungen um längerfristige Lösungsansätze gewannen die Oberhand. Von nun an konzentrierte sich die Diskussion besonders auf den Bildungs- und Erziehungsbereich, in dem Handlungsbedarf erkannt wurde. Auf diesem Feld zeitigte die antisemitische Welle schließlich die langfristigsten Folgen: Schulbücher und Lehrpläne wurden umgeschrieben, Austauschprogramme mit Israel initiiert, politische Erziehung für Lehrer eingeführt und der staatsbürgerliche Unterricht in den Schulen gestärkt.

Mehr als fünfzig Jahre nach den Ereignissen ist es schwierig, die Beweggründe derjenigen einzuschätzen, die nach der Tat von Köln selbst zu Tätern wurden. Was motivierte sie, Hakenkreuze zu schmieren oder plötzlich in antisemitische Tiraden zu verfallen? Eine sichere Antwort darauf kann man nicht geben. Lässt man Erklärungsansätze wie die einer konspirativen Lenkung durch DDR-Geheimdienste außer Acht, bleiben nur zwei Möglichkeiten: Die erste ist, dass es sich bei den Taten tatsächlich um den „Kulminationspunkt einer Kontinuität judenfeindlicher Dispositionen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“ (Munzert, S. 86) handelte, also der „latente Antisemitismus“ (Gathmann) innerhalb der Gesellschaft in den wenigen Monaten durchbrach. Die zweite ist, dass es sich um die Folgen mangelnder Aufklärung und Lust an der Provokation handelte – also um die Nachwirkungen von mehr als einem Jahrzehnt schambehafteten Beschweigens der NS-Vergangenheit. Gegen das daraus entstehende Tabu rebellierten besonders jüngere Personen, die kaum eigene Erinnerungen an die NS-Zeit hatten. In jedem Fall aber hatte die antisemitische Welle weitreichende Folgen für die bundesdeutsche Gesellschaft und die Art und Weise, wie sie mit ihrer Geschichte umgeht.

[1] Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte und leicht bearbeitete Fassung der ereignisgeschichtlichen Einordnung aus Marc-Simon Lengowski in Zusammenarbeit mit Gülay Gün, Anton F. Guhl und Thomas Rost: Wiederkehr der Nazis oder Kinderkritzeleien? Lehrmaterialien und Unterrichtseinheit zur antisemitischen Welle von 1959/1960 in Hamburg, Hamburg 2016. Die Veröffentlichung wurde 2015 bis 2016 durch die großzügige finanzielle Förderung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ realisiert, organisatorisch wie inhaltlich durch Humanity in Action und den Verein für Hamburgische Geschichte begleitet sowie durch einen Druckkostenzuschuss vom Fachverband Geschichte und Politik Hamburg unterstützt. Gerne stellen die Autoren sie dem Digitalen Hamburg Geschichtsbuch für die ergänzende Veröffentlichung zur Verfügung. Gedruckte Exemplare der Broschüre sind weiterhin kostenlos beim Verein für Hamburgische Geschichte erhältlich.

Grundlegende Literatur und Quelle:

6. Sitzung der Hamburgischen Bürgerschaft vom 24.3.1960. In: Stenographische Berichte der Bürgerschaft zu Hamburg. Hamburg 1960, S. 196–208.

Bergmann, Werner: Antisemitismus als politisches Ereignis. Die antisemitische Schmierwelle im Winter 1959/1960. In: Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945. Hg. von dems. und Rainer Erb. Opladen 1990, S. 253–275.

Bundesregierung (Hg.): Die antisemitischen und nazistischen Vorfälle. Weißbuch der Bundesregierung über die antisemitischen und nazistischen Vorfälle in der Zeit vom 25. Dezember 1959 bis zum 28. Januar 1960 und Erklärung der Bundesregierung. Bonn 1960.

Gathmann, Hans: Der latente Antisemitismus. Prozesse und Fälle in der Bundesrepublik. In: Politische Meinung 4 (1959), H. 34, S. 61–72.

Kiani, Shida: Zum politischen Umgang mit Antisemitismus in der Bundesrepublik. Die Schmierwelle im Winter 1959/1960. In: Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus. Hg. von Stephan A. Glienke, Volker Paulmann und Joachim Perels. Göttingen 2008, S. 115–146.

Munzert, Maria: Neue Antisemitismuswelle. In: Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Hg. von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz. Bielefeld 2007, S. 85–87.

Schildt, Axel: „Schlafende Höllenhunde“. Reaktionen auf die antisemitische Schmierwelle 1959/60. Festschrift für Ina Lorenz zum 65. Geburtstag. In: Aus den Quellen. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte. Hg. von Andreas Brämer, Stefanie Schüler-Springorum und Michael Studemund-Halévy (Studien zur jüdischen Geschichte, Bd. 10). München 2005, S. 313–321.

 

Bildnachweise:

Abb. Titelfeld: aus: Wiederkehr der Nazis oder Kinderkritzeleien? Lehrmaterialien und Unterrichtseinheit zur antisemitischen Welle von 1959/1960 in Hamburg, Hamburg 2016 (s.o.), Kollage auf dem Cover.