Lars Amenda
Döner, Pizza, Falafel, Phở, Kimchi, usw. – internationale Gerichte sind heute ein selbstverständlicher Bestandteil der Ernährung der Hamburger*innen. Menschen nahmen seit jeher fremde Einflüsse in ihre Essgewohnheiten auf, doch die westlichen Wohlstandsgesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschleunigten und intensivierten diese Entwicklung. In Hamburg eröffneten zwar bereits früh ausländische Lokale wie 1903 das italienische Restaurant Cuneo in der Davidstraße in St. Pauli oder 1921/22 das „Peking“ in der Fuhlentwiete und mehrere chinesische Speisestätten im „Chinesenviertel“ der 1920er Jahre. Die internationale Gastronomie breitete sich in der Hansestadt aber vor allem seit Mitte der 1950er Jahre aus.
Nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ existierte das vormalige „Chinesenviertel“ aufgrund der Verfolgung nicht mehr und nur 30 chinesische Männer blieben in Hamburg. Sie hofften auf baldige wirtschaftliche Besserung und sahen sich teilweise als displaced persons an. Dies verstärkte sich durch die Gründung der Volksrepublik China im Oktober 1949. Einige der in Hamburg verbliebenden chinesischen Verfolgten betrieben bald wieder ihre Lokale wie Chong Tin Lam (Hongkong-Restaurant, Heinestraße) und Wang Ah Moo (Ho Ping, Davidstraße). Um 1950 gab es wieder fünf chinesische Restaurants in St. Pauli und auch in der Schmuckstraße existierten bald wieder zwei chinesische Gasstätten, die damit an das frühere „Chinesenviertel“ erinnerten.
Die westdeutsche Gesellschaft veränderte sich seit den frühen 1950er Jahren und entwickelte sich mit dem viel beschworenen „Wirtschaftswunder“ allmählich zur Konsumgesellschaft. Gestiegene Löhne und mehr Freizeit ermöglichten immer mehr Menschen einen gewissen Wohlstand mit einem eigenen Auto und einer jährlichen Urlaubsreise ins Ausland. Dies veränderte auch das Freizeitverhalten zu Hause in Hamburg: mit dem Massentourismus entstand der Wunsch, auch in heimischen Gefilden gelegentlich internationale Gerichte zu essen und auf diese Weise einen kulinarischen „Kurzurlaub“ zu machen.
An der Spitze der „ausländischen Spezialitätenrestaurants“, wie sie seinerzeit genannt wurden, standen in der Hansestadt die China-Restaurants. Neben den in St. Pauli bereits existierenden Lokalen eröffneten in der Hamburger Innenstadt bald weitere Restaurants. Besonders stilbildend sollte das 1956 gegründete Tunhuang – benannt nach der Stadt Suzhou in Südchina – in den Colonnaden werden. Die beiden Teilhaber S. H. Ling und Wilhelm Gronewald setzten auf eine gehobene Atmosphäre und professionell ausgebildete Köche („famous Hongkong cooks“, wie eine Annonce in einem englischsprachigen Hamburgführer von 1957 erklärte). Der erste Chefkoch dort war Yue Yu-Hai, der Vater von Ming-Chu Yu, die heute das Han Yang in Niendorf betreibt und die Sparte für chinesische Restaurants innerhalb der Dehoga Hamburg leitet.
Das Tunhuang hatte unmittelbar großen Erfolg in Hamburgs High Society. Zur Kundschaft gehörte wohl auch der Erste Bürgermeister Max Brauer, der 1933 vor den Nazis erst nach China und dann in die USA geflohen war und dort wahrscheinlich chinesisches Essen kennen und schätzen gelernte hatte. 1957 eröffnete im Hotel Excelsior in der Straße An der Alster eine zweite Filiale des Tunhuang und 1960 erschien sogar ein eigenes Kochbuch, das die chinesische Küche näher bringen und zum Nachkochen anregen sollte.
Das Erfolgsrezept der China-Restaurants bestand aus mehreren Faktoren: 1. Die vermeintliche „Fremdheit“ der chinesischen Kultur und Küche wirkte vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Transformationen in der frühen Bundesrepublik auf viele Hamburger Kund*innen reizvoll. 2. Die Mehrzahl der Lokale passte die Speisen dem „deutschen Geschmack“ an und servierte für jeden Gast jeweils eine eigene, große Portion zu einem günstigen Preis. 3. Einige Restaurants wie das Tunhuang und das Nanking (Neß, ab 1964) boten vergleichsweise authentische regionale chinesische Küche an und ermöglichten solcherart ein echtes Geschmackserlebnis und kulinarisches Neuland.
Die Namen der Lokale sollten auf den ersten Blick als chinesisch erkennbar sein und dennoch für deutsche Ohren einigermaßen vertraut klingen. Chinesische Gastronomen wählten deshalb Städtenamen wie Peking, Kanton, Hongkong, Nanking. Ningpo und selbst Tsingtau, nach der ehemaligen deutschen Kolonie in Nordchina (1897-1914). Die Tagespresse berichtete seit den 1950er Jahren regelmäßig über den Boom der China-Restaurants und animierte die Leser*innen geradezu , selbst einmal chinesisch essen zu gehen.
Die Welt am Sonntag befand im April 1963, in westdeutschen Städten seien China-Restaurants „keine Seltenheit mehr“ – allein in Hamburg gäbe es über 20. Hamburgführer enthielten nun zumeist Hinweise auf die internationale Küche in der Stadt und vor allem auf die chinesischen Lokale. Das Hamburger Abendblatt veröffentlichte im Juni 1972 eine farbige Doppelkarte mit ausländischen Restaurants in der Hamburger Innenstadt („Die Küchen der Welt in unserer Stadt“). Immerhin 18 der insgesamt 53 gelisteten ausländischen Lokale waren China-Restaurants – sie bildeten damit die mit Abstand größte Gruppe, gefolgt von jeweils vier italienischen und spanischen Lokalen. Die genaue Zahl der China-Restaurants lässt sich nicht ermitteln, da nicht wenige Chinesen andere Staatsangehörigkeiten wie eine britische oder indonesische oder bald auch die deutsche hatten.
Die Hamburger Politik befürwortete in den 1960er Jahren die Eröffnung von China-Restaurants. Da sich Hamburg stark veränderte und die seemännische Prägung von St. Pauli kontinuierlich abnahm, suchte das Stadtmarketing nach neuen zeitgemäßen Zeichen der Internationalität – wie eben China-Restaurants. Die restriktive bundesdeutsche Ausländerpolitik erschwerte allerdings chinesischen Gastronomen den Betrieb ihrer Lokale. Die Bundesrepublik warb zwar in südeuropäischen Ländern „Gastarbeiter“ an, doch sollten keine Arbeitskräfte von außerhalb Europas ins Land kommen. Chinesische Köche, in Hongkong oder Taiwan angeworben, durften als „Fachkräfte“ befristet in der Bundesrepublik arbeiten, doch auf chinesische Kellner*innen traf dies nicht zu. Chinesische Gastronomen wie Li Chang, der in den sechziger Jahren drei Filialen des „Mandarin“ am Millerntorplatz, Gänsemarkt und Steindamm unterhielt, stellte deshalb notgedrungen italienische Keller in seinen Lokalen an. Die Hamburger Kundschaft irritiert dies, erwarteten sie doch von einem Besuch eines China-Restaurants ein ethnisch einheitliches Gesamterlebnis.
Die 1960er Jahre waren in vielerlei Hinsicht sehr dynamisch. Die Gesellschaft wandelte sich, die Wirtschaft florierte und die nun modernen China-Restaurants brachten internationales Flair nach Hamburg und in westdeutsche Städte. Ab den frühen 1970er Jahren erschütterten mehrere Krisen wie der „Ölschock“ 1973 den vorherigen Glauben an einen unendlichen wirtschaftlichen Wachstum, doch den individuellen Wohlstand und das veränderte Freizeitverhalten gaben die meisten Hamburger*innen nicht auf.
Der Boom der China-Restaurants in Hamburg setzte sich fort und die Lokale kamen ihrer Kundschaft nun sogar entgegen. „Endlich ein China-Restaurant in Wandsbek“, titelte etwa das Hamburger Abendblatt im Januar 1973. Nach zumeist drei bis vier Jahren unselbstständiger Arbeit eröffneten chinesische Köche mit ihrem in dieser Zeit erspartem Geld ein eigenes Lokal. Da in St. Pauli und in der Innenstadt bereits eine merkliche Konzentration chinesischer Restaurants existierte, verteilten sich chinesische Gastronomen auf weitere Hamburger Stadtteile, anschließend auf andere norddeutsche Städte und schließlich Gemeinden.
1982 hatten zwar nur 55 chinesische Staatsangehörige in Hamburg eine „Gaststättenerlaubnis“, alleine 28 im Bezirk Mitte, doch die Gesamtzahl der China-Restaurants lag deutlich darüber. Mit dem Erfolg der China-Restaurants vergrößerte sich die chinesische Community in der Stadt. 1967 waren genau 459 chinesische Staatsangehörige registriert, darunter immer noch 210 Seeleute, die nun zumeist als Wäscher oder Stewards arbeiteten. Neben ihnen lebten 36 Selbständige, 41 Unselbständige, 39 Köche, 84 Familienangehörige und 46 Studenten und Schüler in Hamburg. Seit Mitte der 1950er Jahre kümmerte sich der Chinesische Verein in Hamburg um die Landsleute und verfolgte anfangs eine ausgesprochen pro-taiwanesische Politik.
Dass chinesisches Essen angesichts der Größe des Landes eine immense regionale Vielfalt aufweist, wurde in Hamburg allmählich bewusst. „Warum Chinesisches hier anders schmeckt“, darüber klärte Die Welt im September 1977 auf und in den 1980er Jahren wurde bisweilen Kritik an der häufig nicht authentischen, an den „deutschen“ Geschmack angepassten Küche laut.
Ende der 1980er Jahre hatte bezüglich der China-Restaurants ein gewisser „Sättigungseffekt“ eingesetzt. Hamburgs Repräsentanten hatten 1986 eine Partnerschaft mit Shanghai vereinbart und kritisierten drei Jahre später das brutale Vorgehen der Volksrepublik während des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Für chinesische Gastronomen in Hamburg verschärfte sich die Konkurrenz in der Hansestadt ab den 1990er Jahren, da sich das Angebot an internationaler Küche und Restaurants im Zuge der Globalisierung deutlich steigerte. Nichtsdestotrotz waren es die China-Restaurants der frühen Nachkriegszeit, die den Hamburger*innen erstmals den Zugang zu einer erweiterten kulinarischen Welt ermöglichten.
Weiterführende Literatur:
Amenda, Lars, Fremde – Hafen – Stadt. Chinesische Migration und ihre Wahrnehmung in Hamburg 1897-1972, München/Hamburg 2006 (Forum Zeitgeschichte, Bd. 17), 422 S.
Amenda, Lars, Das chinesische Restaurant: in: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 3: Europa und die Welt, München 2012, S. 213-219.
Amenda, Lars, China-Restaurants. Migration, Ethnizität und Gastronomie in Westeuropa im 20. Jahrhundert, in: Mathias Beer (Hrsg.), Über den Tellerrand geschaut. Migration und Ernährung in historischer Perspektive (18. bis 20. Jahrhundert), Essen 2014 (Migration in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7), S. 169-186.
Böttiger, Theodor, Kulinarische Streifzüge durch Hamburg. 47 Restaurants und 90 Rezepte ihrer Spezialitäten, Zürich/Stuttgart 1966, S. 80-81.
Kao Guang-Shi, Chinesisches Kochbuch mit Streifzug durch die Kultur der Chinesen, zusammengest. von Gerd Paustian u. S. H. Ling, Hamburg 1960.
Möhring, Maren, Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012.
Bildnachweise
Abb slider: https://geschichtsbuch.hamburg.de/wp-content/uploads/sites/255/2024/01/Chinesische-Communitys-in-Hamburg_%E6%B1%89%E5%A0%A1%E7%9A%84%E5%8D%8E%E4%BA%BA%E7%A4%BE%E5%8C%BA.pdf. Alle Rechte bei Lars Amenda; Abb. 1: Otto Erich Kiesel (Bearb.), Hamburg. Führer durch die Freie und Hansestadt Hamburg. Offizieller Führer des Vereins zur Förderung des Fremdenverkehrs in Hamburg, 2., erw. Aufl., Hamburg 1922, S. 166 / Abb. 2, 3 und 4: Privatbesitz Ming-Chu Yu / Abb. 5: Sammlung Lars Amenda / Abb. 6: Das Gasthaus 14 (1960), S. 10 / Abb: 7: St. Pauli-Archiv