Matthias Schmoock
Hamburg im Jahre 1848
Sechs Jahre nach dem verheerenden Großen Brand, der rund ein Drittel der Innenstadt in Schutt und Asche gelegt hat, sind die zerstörten Flächen wieder bebaut. Schmuckstück ist die „Kleine Alster“ mit Wassertreppe, Schleusenbrücke und Alsterarkaden, ein Hauch von Venedig im kühlen Norden.
Unter den Straßen schlängelt sich bald ein höchst modernes Siel- und Wasserleitungssystem, ein Pumpwerk in Rothenburgsort sorgt für die Wasserversorgung, und auf dem Grasbrook entsteht Hamburgs Gasanstalt. Elbe und Alster werden durch eine Schleusenanlage verbunden, die erste Eisenbahn tuckert nach Bergedorf. Thalia Theater, Neue Post und Stadtwassermühle öffnen ihre Pforten. Hamburg entwickelt sich in rasendem Tempo zu einer der bedeutendsten Hafenstädte der Welt. Hinzu kommen grundlegende wirtschaftliche Wandlungen, die den ganzen Kontinent erfassen. Die neue Zeit bringt den Übergang vom Holz- zum Stahlschiff, vom Handwerk zum Fabrikbetrieb, von der Segel- zur Dampfschifffahrt, Entwicklungen, die auch in Hamburgs Wirtschaftsleben tiefe Spuren hinterlassen werden.
Kehrseite der glänzenden Medaille: Am Ende des Jahrzehnts ist die Stadt mit einem Minus von 68 Millionen Banco-Mark der höchstverschuldete Staat des Deutschen Bundes. Und: Immer mehr Menschen strömen aus den ländlichen Gebieten in die schillernde Stadt. Viele siedeln sich in den Vorstädten St. Pauli und St. Georg an: Sie sind in der Stadt praktisch rechtlos.
An Hamburgs Spitze steht ein völlig veraltetes Regierungssystem mit zum Teil noch mittelalterlicher Prägung, das mit der Entwicklung nicht mithalten kann. Die Mitglieder des Senats (damals noch „Rat“ genannt) werden nicht von der Bürgerschaft gewählt und können auch nicht von ihr abgewählt werden. Der Rat amtiert lebenslänglich und ergänzt sich selbst, beispielsweise wenn ein Mitglied stirbt. Im Laufe der Jahre ist es dabei zu einer Selbstverständlichkeit geworden. dass ihm nur Mitglieder aus angesehenen, „ratsfähigen“ Bürgerfamilien angehören. In der Regel sind dies Juristen und Kaufleute. Politisch mitbestimmen kann daneben nur noch die sogenannte „Erbgesessene Bürgerschaft“, an deren Tagungen diejenigen teilnehmen, deren Haus oder Grundstück nach Abzug der Schulden mindestens 3000 Mark wert ist. Aber: Von den rund 95 000 Erwachsenen, die 1848 in Stadt und Vorstädten leben, sind nur 3000 bis 4000 „Erbgesessene Bürger“, eine verschwindend geringe Zahl. Und: Als Gruppe dürfen die „Erbgesessenen“ zwar über Gesetze abstimmen, sich aber nicht einmal selbstständig versammeln oder vorab über das Abstimmungsthema diskutieren.
Zwischen den Tagungen werden sie durch andere politische Gremien wie die „Oberalten“, die „Sechziger“ und „Hundertachtziger“ vertreten, durchweg elitäre Grüppchen, die in der Bevölkerung wenig Rückhalt haben.
Für die rund 60 Prozent derjenigen, die in Hamburg am Rande des Existenzminimums leben müssen, finden sich im provisorischen Rathaus keine Fürsprecher, und während einzelne Handelshäuser ständig mehr Geld anhäufen, wird das Heer der Armen immer größer. 1848 wurde die Bevölkerung durch Preissteigerungen, Missernten und eine abnehmende Konjunktur in immer tiefere Unzufriedenheit getrieben. Ein Jahr zuvor hatte in den Straßen der sogenannte Kartoffelkrieg getobt. Damals stürzte die anhaltende Teuerung (bei gleichbleibenden Löhnen) viele ärmere Familien in tiefe Not, die schrittweise Umstellung des Warentransports auf die Eisenbahn verunsicherte zudem Elbschiffer und Fuhrunternehmer. Als Lebensmittelhändler die Preise um mehr als das Doppelte erhöhten, kam es im Juni 1847 zu massiven Übergriffen auf die Händler und ihre Kontore.
Um mehr Geld in die Stadtkasse fließen zu lassen, waren alle Grundnahrungsmittel mit Verbrauchssteuern (Akzise) belegt worden, was die Spannungen zusätzlich schürte. Zwar wurden die Unruhen nach kurzer Zeit mit Polizeigewalt aufgelöst, aber öffentliche Unmutsbekundungen waren für die Hamburger fortan nichts Neues mehr.
Im Jahr 1848 sind immer mehr Bürger besonders darüber verärgert, dass der Rat alle politischen Entscheidungen allein aushandelt. Da es keine Parteien im heutigen Sinne gibt, fehlt die öffentliche Aussprache, und die (zunächst streng zensierte) Presse publiziert alle gefassten Beschlüsse erst im Nachhinein.
Doch die Bürger stellen die Kompetenz der Entscheidungsträger immer häufiger in Frage, quer durch alle sozialen Schichten. Die aufwendige Ausgestaltung der Gegend um die Binnenalster erscheint vielen Menschen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten überflüssig, sie murren gegen die mutmaßliche Prunksucht. Aufgeklärte Bürgerliche fordern Mitspracherecht und die Offenlegung des undurchsichtigen Finanzwesens. Da Gremien fehlen, in denen Unmut und Reformvorschläge kanalisiert werden könnten, bilden sich schließlich immer mehr Vereine. Sie werden innerhalb kurzer Zeit zu einem entscheidenden politischen Faktor.
„Die Stadt“ besteht aus Altstadt (im Osten) und Neustadt (im Westen). St. Pauli und St. Georg sind „Vorstädte“ außerhalb der Stadtmauern, Eppendorf, Barmbek, Winterhude, Harvestehude und andere heutige Stadtteile sind noch weit abgelegene Dörfer, die (genau wie die Vorstädte) nur über die sieben Durchlässe in den Stadtmauern erreicht werden können.
Die Stadt hat inklusive der Vorstädte 148 764 Einwohner, 52 192 sind Beschäftigte.
Zahlen, die das starke soziale Gefälle belegen: Den größten Anteil machen Arbeiterinnen und Arbeiter (12 893) sowie Handwerker aus (12 920). 942 Menschen arbeiten im Hafen, 1681 sind Kaufleute. Die Zahl aller Beamten, Ärzte, Lehrer, Geistlichen, Apotheker und Juristen ist dagegen eher niedrig, sie beträgt 1958.
Um 1848 gehören zirka 65 Prozent der Bevölkerung zur Unterschicht, 18 Prozent zur unteren Mittelschicht und nur sieben Prozent zur Oberschicht. Etwa 50 000 der Erwerbstätigen verdienen unter 500 Mark im Jahr.
Während an Alster und Elbe für die reichen Kaufleute und Reeder prunkvolle Villen errichtet werden, bleibt die Wohnsituation in weiten Teilen der Stadt dürftig. Die Zahl der Häuser beträgt (inklusive der Vorstädte) um 1848 rund 11 500; mit Etagen, Wohnkellern usw. gibt es 147 857 Einheiten zumeist einfachster Bauweise. Die dichtbebauten Gängeviertel, die zum Teil noch aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges stammen, haben das Großfeuer von 1842 fast unbeschadet überstanden; hier sind die Zustände besonders schlimm.
Während die Stadt Anfang 1848 in politischen und sozialen Fragen weitgehend im Stillstand verharrt, gibt es grundlegende Veränderungen auf wirtschaftlich-technischem Gebiet. Einige Beispiele: Im Oktober 1845 werden die ersten Straßen mit Gas beleuchtet, und im Dezember 1846 nimmt die Hamburg-Berliner Eisenbahn ihren Betrieb auf.
Da im Hamburg der 1840er Jahre politische Parteien völlig fehlen, finden sich die Menschen in Vereinen zusammen. Diese zum Teil schon aus dem 18. Jahrhundert stammenden Organisationen spielen bei der Vorgeschichte der 48er Revolution eine zentrale Rolle. Hier wurden die politischen Interessen und Aktivitäten breiter Bevölkerungsschichten aufgefangen und umgesetzt, hier wurde (oft erbittert) diskutiert, hier wurden schließlich Bittschriften und Reformkonzepte ausgearbeitet, denen schon bald eine wichtige Funktion zufallen sollte.
Als besonders reformfreudig erweist sich die Patriotische Gesellschaft von 1765.
Auch andere machen von sich reden: Der „Bürgerverein“ fordert die Entsendung „nichterbgesessener“ Bürger in die Bürgerschaft, Mitglieder des „Grundeigentümervereins“ drucken und veröffentlichen die Ergebnisse aus politischen Abstimmungen und werden dafür mit einem Verbot belegt. Der „Verein Hamburger Juristen“ wiederum erklärt den „Raubdruck“ mutig für rechtens.
Reformvorschläge werden dem Rat zunächst weiterhin in höflicher Form vorgebracht und bewirken anfänglich praktisch überhaupt nichts. Der Rat wiegelt ab, verspricht Prüfung und verbittet sich ansonsten die Einmischung. Dabei sind interessanterweise etliche Ratsmitglieder durchaus reformwillig, doch andere, um ihre Pfründe besorgte Mandatsträger blockieren sämtliche Ansätze für Änderungen oder zumindest für Verständigung mit den liberalen Bürgern.
Da schlägt die Nachricht von der Revolution in Frankreich wie eine Bombe ein. Überall gärt es: Der „Bürgerkönig“ Louis Philippe wird verjagt, in Wien muß am 13. März Kanzler Metternich abtreten, in München stürzt am 20. März Ludwig I., in Berlin gibt es Straßenkämpfe.
Mit der selbstzufriedenen Behäbigkeit in Hamburgs Regierungsstuben ist es schlagartig vorbei – viele der ehrwürdigen Herren wissen es genau: Die Regierung muss sich jetzt reformbereit zeigen, oder die Radikalisierung innerhalb der politisch sensibilisierten Bevölkerung wird sich immer weiter steigern.
Anfang März kommt es in den Straßen zu Unruhen, der „Hamburgische Unpartheiische Correspondent“ meldet „schwerste Excesse gegen das Eigenthum von Bürgern“. Vor dem Gebäude der reformorientierten Patriotischen Gesellschaft versammeln sich Hunderte und brechen laut Zeitung in „tobenden Lärm“ aus – die Bürgergarde verhaftet einige Ruhestörer.
Als erstes Zugeständnis hebt der Rat die Pressezensur auf, und innerhalb kurzer Zeit erscheinen in der Stadt sieben neue Zeitungen.
Um die Vor-Revolution in einigermaßen geordnete Bahnen zu lenken, gründen liberale Juristen, Kaufleute und Grundeigentümer ein 24-köpfiges Gremium aus Vertrauensmännern. Bei einer Versammlung in der Altonaer Tonhalle am 10. März präsentieren sie einen Forderungskatalog, die „12 Punkte“. Sie enthalten unter anderem eine Wahlrechtsreform, die Trennung von Staat und Kirche, Aufhebung der Lebenslänglichkeit und Selbstergänzung des Rats. Der Rat will als Antwort eine „Deputation zur Beratung politischer Reformen“ einsetzen und empfiehlt, die liberalen Forderungen zu berücksichtigen. Doch die „Erbgesessene Bürgerschaft“ setzt die Reformdeputation schließlich wiederum aus den alten Eliten zusammen. Für viele Liberale und Demokraten ist die Deputation daher eine Farce.
Die liberalen Wortführer dieser Zeit, Juristen, Kaufleute, Lehrer, Journalisten gehören zum Establishment, und viele ihrer politischen Forderungen bleiben den unteren Bevölkerungsschichten unverständlich.
Ihr Zorn richtet sich gegen „die da oben“, also vor allem gegen einige Ratsherren und Bürgermeister, die in der Stadt bekannt und weniger wohlgelitten sind. Als Keimzelle der Unruhen erweisen sich die Vorstädte St. Pauli und St. Georg. Die Bewohner dort sind gegenüber den Einwohnern des Hamburger Stadtgebietes politisch und wirtschaftlich erheblich benachteiligt.
Die Menschen in St. Georg und auf St. Pauli müssen nahezu die gleiche Steuerlast entrichten wie diejenigen, die innerhalb des Wallrings leben; von diesem Geld fließt aber nur ein kleiner Teil in die Vorstädte zurück. Besonders ärgerlich: Die Handwerker aus St. Georg und St. Pauli müssen an den Stadttoren Abgaben leisten, wenn sie ihre Waren in die Stadt bringen, während umgekehrt die Hamburger Handwerker abgabenfrei bleiben. Dabei leben in den Vorstädten viele der besonders armen Menschen, vor allem auf St. Pauli vermischt mit Gauklern, Halbweltlern und Kleinkriminellen.
Bei allen Bürgern verhasst ist die Torsperre, eine Gebühr, die beim Passieren der Stadttore zum Einbruch der Dunkelheit fällig wird. Wer kurz nach Torschluss die „Grenze“ passieren will, muß vier Schilling entrichten, im Laufe der Nacht erhöht sich der Betrag immer weiter. In den Stunden nach Mitternacht beträgt er satte 16 Schilling. Der Hamburger Historiker Jörg Berlin sagt: „In den Wintermonaten begann die Torsperre um 16.30 Uhr, Anfang Juni um 21.30 Uhr. Für einen Arbeiter konnte das unter Umständen täglich den Verlust eines oder mehrerer Stundenlöhne bedeuten.“
Was sich an der westlichen Hamburger Stadtgrenze an jenem Abend des 13. März abspielt, vermittelt ein zeitgenössischer Bericht, die „Treue Schilderung der betrüblichen Ereignisse in der Nacht von Montag auf Dienstag dieser Woche vor dem Millerntor und in St. Pauli“. Darin heißt es: „Als das Tor um 6.30 Uhr gesperrt worden war, erhoben sich aus der Menge einige Stimmen: Es lebe die Freiheit! Hurra! Hamburg ist frei! Keine Torsperre mehr! Hurra … Die Zahl der am Platz Versammelten mochte nahe an 1.000 Individuen, Frauen und Kinder inbegriffen, erreichen, als gegen 9 Uhr Oberst Schohl, Kommandant der hanseatischen Garnison, mit einer imposanten Macht erschien, durch welche das Tor besetzt wurde (…). “ Verwünschungen werden laut, Pfiffe gellen. Als immer mehr aufgebrachte Menschen durch das Millerntor drängen, schließen sich Bürgermilitär und Garnison zusammen und versuchen, die aufgebrachten Massen zurückzudrängen. Da fliegen Steine. Im Eifer des Gefechts gehen die Soldaten gegen die unbewaffneten Menschen vor. Vor allem Frauen und Kinder werden niedergemacht, und auch der einzige Tote, ein Maurermeister, war eher zufällig in den Aufruhr geraten.
Zwei Monate später kommt es wieder zu schweren Unruhen – diesmal an der Grenze zur Vorstadt St. Georg. Am Abend des 9. Juni 1848 stürmt eine aufgebrachte Menschenmenge aus Protest gegen Zollschranken und Torsperre das Steintor.
Forderungen und Ziele des liberalen Bürgertums unterscheiden sich in diesem März 1848 deutlich von denen der Proletarier aus den Vorstädten. Andererseits ist es aber gerade diese Kombination, die den Senat zum Einlenken zwingt. Die Ereignisse nach dem 9. Juni zeigen deutlich: Die Revolution ist ihren Zielen so nahe wie nie zuvor.
Inzwischen wird endgültig deutlich, dass die Reformdeputation zu langsam arbeitet; nach endlosen Tagungen bringt sie im Mai nur ein Gesetz zu „Preßverbrechen und Preßvergehen und deren Bestrafung“ zustande, das die schlimmsten Befürchtungen noch übertrifft.
Politische Reformen werden allerdings in Aussicht gestellt. Dagegen bleiben die konkreten Forderungen der Vorstädter weiter unerfüllt, vor allem die verhasste Torsperre besteht weiter. St. Pauli und St. Georg haben weder am neuen Sielsystem teil noch an der modernen Wasserversorgung und auch nicht an der Gasbeleuchtung, alles Einrichtungen, die nur ein paar Straßenzüge weiter schon fast alltäglich sind. Auch machen sich in den Vorstädten immer mehr aus Hamburg vertriebene Bettler breit. Der seit langem von vielen geforderte Anschluss der Vorstädte an Hamburg wird jedoch weiter blockiert.
Als schließlich auch noch der deutsch-dänische Krieg um Schleswig-Holstein beginnt und dänische Schiffe die Elbe blockieren, verschlechtert sich die Versorgungslage erheblich; wiederum sind vor allem die niederen Bevölkerungsschichten betroffen.
Die revolutionären Spannungen in Hamburg zeigen nun endlich Wirkung. Nach den schweren Unruhen am Steintor machen die Vereine und die freie Presse aus Enttäuschung über die Arbeit der Reformdeputation Druck: Sie fordern jetzt gezielt eine auf demokratischer Basis gewählte verfassunggebende Versammlung (Konstituante).
Doch zunächst läßt es der Rat noch einmal auf eine Machtprobe ankommen: Als ein aus den verbundenen Vereinen hervorgegangenes „CentralComite“ zur zentralen Macht in der Stadt werden soll, läßt der Rat drei Mitglieder des Komitees verhaften, um weitere Aktionen zu verhindern.
Auch anderen konservativen Kräften wie der „Börsenpartei“, aber auch vielen Bürgern sind die Forderungen der Vereine zu radikal. Sie fürchten den Umsturz. Nachdem die drei Köpfe des „CentralComite“ freigekommen sind, distanzieren sich
Teile der Opposition von ihren radikal-demokratischen Forderungen und fordern den Rat bei einer großen Versammlung am 17. August in der Tonhalle auf, die Konstituante auf „verfassungsgemäßem Wege“ einzuberufen.
Der Rat willigt ein, allerdings ist dabei ein Faktor von ganz entscheidender Bedeutung: Das Bürgermilitär erklärt, dass es bei weiteren Befehlen gegen die Bevölkerungsmehrheit nicht mehr gehorchen werde, so dass bei zukünftigen Unruhen die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann.
Am 18. August wird die Zustimmung des Rats zur Bildung der Konstituante bekanntgegeben, und der Jubel über das „neugeborene, freie Hamburg“ nimmt auf vielen Straßen und Plätzen der Stadt kein Ende. Die Konstituante wird gewählt und macht sich daran, eine Verfassung zu erdenken, und legt auch einen Entwurf vor.
Die Revolution in Hamburg scheint damit ihren (friedlichen) Höhepunkt erreicht zu haben, ein Trugschluß, wie sich bald zeigt.
Im Sommer 1849 werden die Erfolge der 48er Revolution unter anderem in Wien und Berlin durch Attacken monarchistischer Gegenrevolutionen niedergemacht. Preußen, die stärkste Macht im Deutschen Bund, ist bei der Unterdrückung besonders aktiv.
Hamburg hatte zudem mit preußischer Politik schon zuvor Probleme. 1846 hatte die preußische Regierung den liberalen Hamburger Pressezensor Karl Sieveking massiv, aber erfolglos kritisiert, weil er die Zensur angeblich zu lasch umsetzte und beispielsweise Werke des in Preußen verpönten Heinrich Heine nicht auf den Index nahm. Dazu kommt, dass viele Hanseaten den Preußen vorwerfen, sich beim Kampf gegen die Dänen zu zögerlich eingesetzt zu haben, während zahlreiche Soldaten aus Hamburg sich wacker schlagend in den Krieg zogen.
Umgekehrt ist Teilen der preußischen Regierung die Haltung des Hamburgischen Rats während der März-Unruhen zuwenig entschlossen. Das wiederholte Angebot Preußens, Hilfstruppen zu entsenden, war von den Stadtvätern an der Alster immer wieder dankend abgelehnt worden: Seit der Rat seine Zustimmung zur verfassungsgebenden Versammlung (Konstituante) gegeben hat, die bald darauf mit ihrer Arbeit an der Verfassung für den „Freistaat Hamburg“ beginnt, fürchten immer mehr Hamburger den baldigen Einmarsch preußischer Truppen.
Am 13. August 1849 erscheint ein preußisches Bataillon unangemeldet vor Hamburgs Stadttoren, allerdings nur, um in die Stadt zu marschieren und in einer Unterkunft an der Drehbahn eine Nacht zu verbringen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich in Hamburg und den Vorstädten die Nachricht, die Preußen seien „einmarschiert“, um den Reformen ein Ende zu bereiten. Schon in Altona gibt es Unruhen, auf St. Pauli schließlich schwere Krawalle. Der Zeitzeuge Johann Gustav Gallois schreibt, dass sich die Soldaten am Millerntor „mit gefälltem Bajonett die Bahn brechen mußten, auf dem Walle regnete es sogar Steine und Kot auf die Truppen“.
Obwohl sich die Soldaten nicht provozieren lassen, entwickeln sich die Krawalle zu einer Massenhysterie, auch unter Mitgliedern des Bürgermilitärs. Um 23 Uhr verliert der Chef des Bürgermilitärs, Oberst Nicol, die Nerven und gibt Alarm, um die Preußen „aus der Stadt zu jagen“. Zwar wird der Befehl umgehend rückgängig gemacht, aber die Krawalle ufern immer weiter aus und halten die Stadt die ganze Nacht lang auf Trab.
Am nächsten Tag ist der Spuk zwar tatsächlich vorbei, aber die Affäre hat für die Erfolge der Revolution verheerende Folgen. Denn am 17. August geschieht genau das, was besonnene Hamburger verhindern wollten: Die Provokationen liefern den preußischen Militärs die passende Rechtfertigung, um nun wirklich in Hamburg einzumarschieren. Ein aus 8000 Mann bestehendes preußisches Korps besetzt die Stadt.
Obwohl der Rat die Truppen nicht gerufen hatte, kommt ihm die preußische Rückendeckung gelegen, um gegen die Hauptmotoren der Revolution, Vereine und Presse, vorzugehen: Die Herausgeber der Zeitungen „Die Reform“ und „Der Grobian“ werden verhaftet, die Vereine durch ein „Vereins- und Pressegesetz“ mundtot gemacht.
Die Besetzung Hamburgs dauert bis zum November 1850. Zeit genug, um die letzten Spuren der Revolution zu tilgen. Am 13. Juni wird die Konstituante aufgelöst, und die Verhandlungen über die Verfassungsreform kommen zum Halt.
Es dauert noch fast zehn Jahre bis 1860, bis Hamburg schließlich eine neue Verfassung bekommt, die viele Anregungen aufgreift, die in der heißen Phase der Hamburger Revolution angeregt, diskutiert und durchgekämpft worden waren: Erst nach 1860 werden die Ratsmitglieder von der Bürgerschaft gewählt, und der Rat (der nun Senat heißt) verliert das Recht der Selbstergänzung.
Es kommen Gewaltenteilung, die Trennung von Staat und Kirche und die konfessionelle Gleichberechtigung.
Und: Endlich fällt auch die verhasste Torsperre, um die es so viele leidenschaftliche Kämpfe gegeben hatte. Andere Forderungen werden nicht erfüllt, so gibt es immer noch kein gleiches Wahlrecht. Die unteren Bevölkerungsschichten, die in Hamburg die große Mehrheit bilden, werden damit immer noch nicht von der Regierung repräsentiert.
Literatur:
Berlin, Jörg: Hamburg 1848/49, Hamburg 1998 (Geschichte – Schauplatz Hamburg; Bd. 18).
Die deutsche Revolution von 1848/49 und Norddeutschland, hg. v. Wolfgang Beutin, Wilfried Hoppe, Franklin Kopitzsch, Frankfurt am Main u.a. 1999 (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte; Bd. 27).
Grolle, Inge: Demokratie ohne Frauen? In Hamburg um 1848, Hamburg 1998 (Geschichte – Schauplatz Hamburg; Bd. 7).
Harms, Ute: „… Und das nennen Sie eine Republik? !!!“ Politische Karikatur in Hamburg um 1848, Hamburg 1992 (Kunstgeschichte; Bd. 7).
Kopitzsch, Franklin: Die Revolution von 1848/49 in Hamburg. Bemerkungen zum Verlauf und zu Problemen einer städtischen Revolution, in: Das Revolutionsjahr 1848 im Herzogtum Lauenburg und in den benachbarten Territorien, hg. v. Eckardt Opitz, Mölln 1999 (Kolloquium der Lauenburgischen Akademie für Wissenschaft und Kultur; Bd. 11), S. 99-107.
Langewiesche, Dieter: 1848/49: Die Revolution in Hamburg – eine vergleichende Skizze, in: Das alte Hamburg (1500–1848/49). Vergleiche, Beziehungen, hg. v. Arno Herzig, Berlin 1989 (Hamburger Beiträge zur öffentlichen Wissenschaft; Bd. 5), S. 177-189.
Bildnachweise:
Abb. Titelfeld: Das brennende Steintor am 9. Juni 1848, von St. Georg aus gesehen, abgedruckt bei J. Berlin: Hamburg 1848/49 (1998), S. 66.
Abb. Thementext: Thalia-Theater um 1860 (H. Jessen), Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, aus KS 1025/902 / Senator in Ornat, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_113 / Hopfenmarkt vor 1842 (P. Suhr), Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, aus KS 1025/17s (Teil III, Bl. 19) / Vorstadt St. Georg 1855, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pincerno_-_St._Georg_1855.jpg) / Hamburg um 1841 (Ausschnitt), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hamburg_1841.jpg) / Patriotisches Gebäude (C. Rodeck), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Geb%C3%A4ude_der_Patriotischen_Gesellschaft.jpg?uselang=de) / Märzrevolution in Berlin, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maerz1848_berlin.jpg?uselang=de) / Torsperre am Millerntor um 1820, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Suhr-Millerntor_um_1820.jpg) / Das brennende Steintor am 9. Juni 1848, von St. Georg aus gesehen, abgedruckt bei J. Berlin: Hamburg 1848/49 (1998), S. 66 / Bundesflotte in Hamburg 1849, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_253-07 / Bürgermilitäroffiziere am Gänsemarkt (H. F. Plate), Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, aus HH 2038/4,
S. 64 / Deutscher Bund 1815-1866, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Deutscher_Bund.svg) / Preußische Armee in Frankfurt im September 1848 (J. N. Ventadour), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frankfurt_am_Main_Barrikade_1848.jpg) / Die Hamburger Rathsstube im Jahre 1860 (Chr. C. Magnussen), Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_211-02.