Christoph Strupp (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg)
Bereits vor Kriegsende hatten die alliierten Mächte erklärt, Militarismus und Nationalsozialismus in Deutschland ausrotten und NS-Verbrecher bestrafen zu wollen. Die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 präzisierten, dass Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft umfassend personell gesäubert werden sollten. NS-Organisationen und jede Form von NS-Traditionspflege wurden verboten. Mehrere Kontrollratsgesetze legten im Winter 1945/46 Einzelheiten des Verfahrens der Entnazifizierung fest. Die Militärregierungen in den jeweiligen Zonen erließen zudem weitere Ausführungsbestimmungen, die sich bis zum Ende der 1940er Jahre mehrfach änderten.
Abhängig vom Alter und ihrer beruflichen Stellung in der NS-Zeit mussten die Deutschen in einem ausführlichen Fragebogen, den die amerikanische Militärregierung entworfen hatte und der dann von Briten und Franzosen übernommen wurde, erklären, in welchem Verhältnis sie zum Nationalsozialismus gestanden hatten. Für die Bewertung des Ergebnisses gab es fünf Kategorien: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete (in Hamburg zunächst: Kriegsverbrecher, Übeltäter, geringe Übeltäter, Anhänger, Entlastete). Die ersten vier Kategorien waren mit unterschiedlich schweren Sanktionen verbunden: So drohten die Entlassung aus dem Beruf und die Sperre des Vermögens, der Verlust des Wahlrechts oder spezielle Meldepflichten. In Hamburg entschied zunächst allein die britische Militärregierung über den Umgang mit den Betroffenen. Bereits im Sommer 1945 traten Ausschüsse mit unbelasteten deutschen Juristen und Laien in beratender Funktion hinzu und im Mai 1947 übertrugen die Briten die Verantwortung für die Kategorien 3-5 ganz auf Hamburger Instanzen.
In Hamburg wurden insgesamt über 327.000 Fälle bearbeitet, von denen rund 180.000 als unbelastet bzw. von dem Gesetz nicht betroffen, 131.000 als „entlastet“, 15.000 als „Mitläufer“ und nur 1.084 Menschen in die dritte Kategorie der „Minderbelasteten“ eingestuft wurden. Für die beiden ersten Kategorien der „Hauptschuldigen“ und „Belasteten“ gibt es für die britische Zone keine Zahlenangaben. Bekannt ist nur die Zahl der Angeklagten, die sich aufgrund von Verbrechen in der Zeit des „Dritten Reiches“ vor alliierten Militärgerichten verantworten mussten. In der britischen Zone waren dies insgesamt 1.085 Angeklagte. Diese Verfahren waren aber nicht Teil des Entnazifizierungsprozesses.
Die Fragebögen und Prüfungsverfahren der Entnazifizierung wurden innerhalb kurzer Zeit von einem Großteil der deutschen Bevölkerung kritisiert. Tatsächlich konnten die formalisierten Verfahren individuelle Schuld und die vielfältigen Formen der Anpassung an den Nationalsozialismus nur unvollkommen erfassen. Mit Hilfe von Entlastungszeugnissen von Pastoren, Arbeitgebern, ehemaligen Nachbarn oder anerkannten NS-Verfolgten, sogenannten „Persilscheinen“, konnten selbst engagierte Nationalsozialisten als Mitläufer oder gar Entlastete erscheinen. Führungsfiguren des Regimes führten Unkenntnis, Erinnerungslücken oder Befehlsnotstände an, diskreditierten Zeugen und schoben die Schuld für die Verbrechen des „Dritten Reiches“ auf die im Krieg oder durch die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zu Tode gekommene NS-Elite.
Der Hamburger Reichsstatthalter und NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann war im Mai 1945 zunächst interniert und nach einem längeren Krankenhausaufenthalt im Oktober 1948 aus gesundheitlichen Gründen entlassen worden. Er musste sich nie selbst vor einem britischen Militärgericht verantworten, sondern sagte in anderen Verfahren nur als Zeuge aus und wurde im Januar 1951 im Entnazifizierungsverfahren als „Minderbelasteter“ eingestuft.
Dass sich weder die britischen noch die deutschen Behörden energischer für die Entnazifizierung einsetzten, hatte auch praktische Gründe: Die Entlassung vieler tausend eigentlich NS-belasteter Beamter und Angestellter in Verwaltung und Wirtschaft hätte angesichts der ohnehin schwierigen Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland im Chaos geendet und auch zu schweren gesellschaftlichen Konflikten geführt. Darum arrangierte man sich mit den Grenzen des Verfahrens und akzeptierte, dass ein umfassender Austausch der Eliten nicht möglich war. Bereits Ende 1949 wurde eine erste weitreichende Amnestie für Verurteilte erlassen. Formal abgeschlossen wurde die Entnazifizierung in Hamburg durch zwei Gesetze im Mai 1950 und Juli 1953. Allerdings gingen die gerichtlichen Auseinandersetzungen über einzelne Entscheidungen aus den Entnazifizierungsverfahren auch danach noch weiter.
Ausgewählte Literatur:
Anton F. Guhl, Wege aus dem „Dritten Reich“. Die Entnazifizierung der Hamburger Universität als ambivalente Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein, 2019.
Jessica Erdelmann, „Persilscheine“ aus der Druckerpresse? Die Hamburger Medienberichterstattung über Entnazifizierung und Internierung in der britischen Besatzungszone, München / Hamburg: Dölling und Galitz, 2016.
Joachim Szodrzynski, Entnazifizierung – am Beispiel Hamburgs, in: Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, Die Dabeigewesenen. Datenbank online, 2014: https://www.hamburg.de/ns-dabeigewesene/4433186/entnazifizierung-hamburg/
Bildnachweise:
Abb. Titelfeld: Entnazifizierungsfragebögen-Ausfüllung (Foto erstellt von Mapham J (Sgt), No 5 Army Film & Photographic Unit, Ausschnitt), nach Wikimedia Commons (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Germany_Under_Allied_Occupation_1945_BU7358.jpg).
Abb. Thementext: Entnazifizierungsfragebögen-Ausfüllung (Foto erstellt von Mapham J (Sgt), No 5 Army Film & Photographic Unit), nach Wikimedia Commons (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Germany_Under_Allied_Occupation_1945_BU7358.jpg) / Karl Kaufmann, Bundesarchiv, Bild 146-1973-079-70 / Unknown / CC-BY-SA 3.0, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1973-079-70,_Karl_Kaufmann.jpg).