Das Schicksal der Familie Ulrikab – Inuit bei Hagenbeck

1845 und später - 1881

Miriam Gröpl

1880 bis 1881 nahm Abraham Ulrikab[1] mit seiner Familie an einer der Hagenbeckschen Völkerschauen in Europa teil. Neben den Berichten von Missionaren über ihren Kontakt zu Familie Ulrikab ist außerdem ein Tagebuch von Abraham Ulrikab erhalten geblieben – allerdings lediglich in der deutschen Übersetzung, die einer der Missionare angefertigt hat. Das Original in Abrahams Muttersprache Inuktitut ist nichts erhalten geblieben. Welche eigenen Interpretationen der Missionar in die Übersetzung einbaute, vielleicht auch um die erfolgreiche Bekehrung der Inuit zum Christentum zu betonen, kann nicht mehr rekonstruiert werden, so dass alle Informationen über das Leben Abraham Ulrikabs durch eine europäische Sichtweise geprägt sind. Die Aufzeichnungen, die heute noch Auskunft über die Familie Ulrikab geben, bleiben auf die Lebensabschnitte und entscheidenden Schritte beschränkt, die in Zusammenhang mit der christlichen Mission oder der Völkerschau stehen. Bemerkenswert ist dennoch, dass es überhaupt ein selbst verfasstes Zeugnis eines Teilnehmers der Völkerschau gibt, das eine Annäherung an die Erfahrungen Abraham Ulrikabs ermöglicht. Darüber hinaus sind keine weiteren Überlieferungen von Teilnehmenden der Völkerschauen bekannt.

Nahe dem Wohnort der Familie Ulrikab in Hebron, Labrador hatten sich christliche Missionare der Herrnhuter Brüdergemeinde angesiedelt, mit denen Abraham und seine Familie handelten und in engem Kontakt standen. Hier lernten Abraham und seine Frau Ulrike Deutsch und Englisch. Schließlich konvertierte die Familie zum Christentum und unterstützte die Missionare nicht nur bei der Jagd, sondern auch beim Religionsunterricht und der Verbreitung des christlichen Glaubens.

1880 stimmten Abraham und seine Familie zu, als sogenannte „Eskimo“ an einer neuen Hamburger Völkerschau teilzunehmen. Gemeinsam mit Johan Adrian Jacobsen (1853-1947), der von der Firma Hagenbeck beauftragt worden war, traten sie die Reise nach Europa an. Abraham war zuvor bereits als Übersetzer und ortskundiger Begleiter für Jacobsen tätig gewesen, der bis dahin Schwierigkeiten gehabt hatte, in Labrador überhaupt Interessierte für die geplante Völkerschau zu finden.

Das Einkommen aus der Arbeit in der Völkerschau sollte Abraham Ulrikab und seine Familie nach ihrer Rückkehr von ihren Schulden gegenüber den Missionaren befreien und ihnen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Die Familie hatte sich zuvor in die Dienste der Missionare gestellt, und so die Jagd zur Deckung ihres Bedarfs an Nahrungsmitteln aufgegeben. Während Abraham als Dolmetscher und Exkursionsführer für die Missionare gearbeitet hatte, war Ulrike als Hausangestellte beschäftigt gewesen. Ohne die Erträge der Jagd hatte die Familie Nahrungsmittel im Missionsladen eingekauft, anstatt sie wie bisher selbst herzustellen, und sich so verschuldet. Zusätzlich zu ihrem eigenen Gehalt handelte Abraham aus, dass auch seine in Hebron verbleibende Mutter für das gesamte nächste Jahr mit ausreichenden Lebensmittelvorräten versorgt werden sollte.

Neben Abraham verpflichteten sich auch seine Frau Ulrike, ihre beiden Töchter Sara und Maria sowie Ulrikes Neffe Tobias dazu, ihre Lebensweise in einer Völkerschau in Europa vorzuführen. Um ein besonders vielfältiges Programm zu bieten, warb Jacobsen mit Abrahams Hilfe außerdem eine nichtchristliche Familie an: Vater Tigianniak, Mutter Paingu und ihre Tochter Nuggasak. Diese sollten dann als „unzivilisiertes Kontrastprogramm“ zu Familie Ulrikab die als ursprünglich und „wild“ präsentierte Lebensweise der „Eskimos“ darstellen. Nach ihrer Ankunft in Hamburg am 24. September 1880 tourte die Gruppe in Hagenbecks Völkerschau durch Europa mit Stationen in Berlin, Prag, Frankfurt, Darmstadt und Paris.

Ihre Sprachkenntnisse machten Familie Ulrikab zu besonders begehrten Teilnehmenden der Völkerschau, da die Verständigung sowohl mit Betreibern der Völkerschau als auch dem Publikum erleichtert wurde. Zusätzlich hofften die Veranstalter, die Eingewöhnung in den Schaubetrieb würde durch vorherige Erfahrungen im Umgang mit Europäern schneller gelingen als bei anderen Angeworbenen, da der erwartete „Kulturschock“ geringer ausfallen würde.

In seinem Tagebuch schilderte Abraham, wie unwohl sich alle Gruppenmitglieder fühlten, wenn sie ihren Alltag im Zoo ausstellen sollten und unter ständiger Beobachtung standen. (Siehe Arbeitsmaterial) Besonders gefragt waren dabei Vorführungen von Jagdtechniken und des Familienlebens. Die Lautstärke des Verkehrs und der Menschen, ständige Eindringlinge in ihrer Wohnstätte und die unendlichen Anfragen nach Autogrammen ließen die Familien kaum zur Ruhe kommen. Gleichzeitig waren sie durch die Ausstellungen isoliert und hatten kaum Kontakte außerhalb des Schaubetriebs, auch weil die Öffnungszeiten der Schau meist den gesamten Tag einnahmen. Bereits kurz nach dem Beginn ihrer Tätigkeit in Europa bereuten beide Familien ihre Zusage zur Völkerschau und hofften auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat. Täglich ausgestellt und angestarrt zu werden setzte ihnen zu und keine der Familien fühlte sich wohl. Auch die erhofften Besuche bei Mitgliedern der Missionsgemeinde wurden kaum ermöglicht, der Publikumsandrang war zu groß um Auszeiten zu nehmen. Um die Vereinbarungen mit Jacobsen einzuhalten und ihre Einkünfte nicht einzubüßen, wollten beide Familien dennoch alle geplanten Stationen absolvieren. Als Jacobsen im November 1880 wegen angeblichen Ungehorsam Tobias gegenüber handgreiflich wurde, drohte Abraham damit, bei wiederholter Gewalt gegen die Familien die Herrnhuter Missionsgemeinde zu benachrichtigen. Über einen zweiten Vorfall berichtete er nicht.

Jacobsen strebte bei der Anwerbung der Familien vor allem eine schnelle Eingliederung in den Ausstellungsbetrieb an. Medizinische Vorschriften wurden entsprechend vernachlässigt und sollten zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Im Dezember 1880 verstarben sowohl Nuggasak als auch Paingu an einer nicht näher geklärten Erkrankung. Kurz darauf erkrankten auch die anderen Mitglieder der Gruppe. 1881 starben alle Mitglieder der Familie Ulrikab an Pocken, gegen die sie eigentlich hätten geimpft werden sollen.  Die dreijährige Tochter Sara hatten Abraham und Ulrike schon während eines Zwischenstopps in Krefeld im Krankenhaus zurücklassen müssen, wo sie kurz nach der Abfahrt ihrer Eltern verstarb. Maria, Tigianniak, Abraham, Tobias und Ulrike starben nacheinander im Januar 1881 in Paris.

Die sterblichen Überreste beider Familien wurden in Paris und Hamburg zur Erforschung diskriminierender Rassetheorien verwendet und erst 2014 offiziell als Überreste der verstorbenen Inuit identifiziert.

 

[1] Die Inuit in Labrador benutzten jeweils die Nachnamen ihrer Eheparter*in mit einem Zusatz als Nachnamen, so dass nicht alle Familienmitglieder den gleichen Nachnamen trugen.

 

Literatur:

Abraham Ulrikab im Zoo. Tagebuch eines Inuk 1880/81, hg. v. Hartmut Lutz mit Kathrin Gollmuß und Greifswalder Studierenden, Wesel 2007.

Rivet, France: In the footsteps of Abraham Ulrikab. The events of 1880-1881, Gatineau, Québec 2014.

The diary of Abraham Ulrikab. Text and context, hg. v. Hartmut Lutz, Ottawa 2005.

 

Bildnachweise:

Abb. Titelfeld: Familie Ulrikab, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Abraham_Ulrikab.jpg&oldid=165157299).