Reformation und Macht

Silke Urbanski

Rat und Domkapitel

Im Jahre 1517 gab es in Hamburg zwei Obrigkeiten. Die weltliche war der Rat, bestehend aus bis zu 24 Mitgliedern, die verschiedene Aufgaben übernahmen.

Hamburger Ratsherren des späten 15. Jahrhunderts

Sie teilten unter sich die Rechtsprechung, die Finanzaufsicht, die Kontrolle der Wirtschaft, die Außenbeziehungen der Stadt auf. Die Gesetzgebung oblag ihnen, die Regierungsgeschäfte führten die Bürgermeister. Zwölf Ratsherren waren aktiv tätig, der sogenannte sitzende Rat. Sie wechselten mit den Anderen zweijährlich die Geschäftsführung. Der Rat wurde nicht gewählt, sondern ergänzte sich selbst. Der Rat wurde seit dem Aufstand von 1410 durch gewählte Kirchspielvertreter beraten, die aber kein Veto-Recht hatten. Zweimal im Jahr stellten die Ratsherren der versammelten Bürgerschaft in sogenannten „Burspraken“ die neuen Rechtsregelungen vor. Die Ratsherren stammten überwiegend aus einer Oberschicht von Kaufherren.

Die zweite Obrigkeit war das Domkapitel, welches über alle Angelegenheiten der Pfarrkirchen und Kapellen entschied. Es bestand aus zwölf Domherren und vertrat in Hamburg den Erzbischof. Es hatte somit die geistliche Gerichtsbarkeit inne. Dabei entschied es nicht nur über Glaubensfragen, sondern es war das Gericht, von dem sämtliche Vergehen von Geistlichen geahndet wurden. Über diese Gerichtsbarkeit und über die Beteiligung des Domkapitels am Erhalt der Stadt sind Rat, Bürgerschaft und Domkapitel mehrfach in schwerwiegende Konflikte geraten Die Domherren gaben die Besetzung von Pfarrstellen vor, der Domscholasticus bestimmte inhaltlich, personell und finanziell über das Schulwesen in der Stadt.

Die Universität Wittenberg war im 16. Jahrhundert ein Zentrum der Reformation

Bildung war für Kaufleute und Handwerker überlebenswichtig. Ohne die Fähigkeit des Lesens und Schreibens, Währungsumrechnens und letztendlich auch des Lateins konnte kein Kaufmann im weitreichenden Handel des 16. Jahrhunderts überleben, kein Handwerker konnte seine Produkte über den heimischen Markt hinaus verkaufen. Doch die Aufsicht über die Schulen hatte zu Beginn des 16. Jahrhunderts der Domscholastikus Hinrich Banskow. Schon 1499 hatte es Beschwerden der Bürger über die Qualität und die Führung der Schulen in Hamburg gegeben.

1522 flammte die Debatte neu auf. Aber dies geschah vor anderem Hintergrund.

Schon bald nachdem die Nachricht von Luthers Thesenanschlag nach Hamburg gedrungen war, fanden sich Hamburger Studenten in Wittenberg ein. Auch in Rostock, wo viele der Hamburger studierten, wurde heftig über die Reformation diskutiert.

In Hamburg predigte der Prämonstratensermönch Johann Widembrügge in Privathäusern. Vermutlich waren seine Gastgeber die ersten Hamburger Lutheraner: Der Kaufmann und Englandfahrer Detlev Schuldorf, der Goldschmied Dirk Ostorp und der Schonenfahrer (Kaufmann, der mit Trockenfisch aus Schonen handelt) Friedrich Ostra.

Um 1522 siedelte sich in der Katrepelsbrücke der Drucker Simon Korver an. Seine Offizin druckte kleine Schriften Luthers in niederdeutscher Übersetzung, so auch das neue Testament als handliches Büchlein. Die Druckerei wurde „Ketzerpresse“ genannt und verschwand um 1523 aus Hamburg. Unterdessen hatte der Pfarrer von St. Katharinen in seinen Predigten die Missstände im Klerus und das Ablasswesen massiv angegriffen. Er wurde seines Amtes enthoben.

Predigt erfolgreich in Hamburg: Stefan Kempe

Um Ostern 1523  kam aus Rostock der Franziskanermönch Stefan Kempe nach Hamburg. Er stammte aus Kampen bei Zwolle, wo vorher auch der Drucker Simon Korver gewirkt hatte. 1521  studierte Stefan Kempe in Rostock. Eigentlich war er in Angelegenheiten des Ordens nach Hamburg gekommen, aber er predigte bald in der Kirche des Franziskanerklosters und hatte großen Zulauf.  1524 und 1525 begleitete er Todeskandidaten zur Hinrichtung. Über die Bekehrung des verurteilten Piraten Claus Kniphoff schrieb er ein Lied und konnte dadurch auch ein Publikum ohne Bildungshintergrund erreichen.
Seine Tätigkeit hätte der Rat eigentlich verbieten müssen, denn er sollte das Wormser Edikt umsetzen. Aber dazu kam es nicht mehr, weil die lutherischen Bürger sich inzwischen gut organisiert hatten.

1522 schlossen sich die Kirchspielgeschworenen der Pfarrgemeinden mit Ältermännern der Zünfte zusammen und forderten vom Domkapitel, das Schulgeld herabzusetzen und ihnen die Kontrolle über die von Bürgern gegründete und finanzierte Nicolaischule zu überlassen. Doch der Domscholastikus Banskow ging nicht auf sie ein. Die Bürer gingen zur Gegenwehr über, und dies war einer der wichtigen Auslöser für die Verbreitung der lutherischen Konfession. Die Kirchspielgeschworenen aller Kirchspielt taten sich zusammen. Sie legten keine Rechnung gegenüber dem Domkapitel mehr ab und demonstrieren dadurch ihre Unabhängigkeit. Bei freiwerdenen Pfarrstellen wählten sie in den nächsten sieben Jahren lutherische Pfarrer.

Schauplätze der religiösen Streitigkeiten in Hamburg: der Dom (rechts) und die beiden Klöster St. Johannis (Mitte) und St. Maria Magdalenen (links)

Die Bürger, die hier aktiv wurden, waren Mitglieder der Mittelschicht , die nicht zum Stadtrat gehörten. Der Rat war zu großen Teilen mit Mitgliedern der alten Flandernfahrergesellschaft besetzt, welche die wohlhabendsten Kaufleute der Stadt waren. Sie vertraten mit dem Domkapitel zusammen die altgläubige Seite. Ebenso waren die Unterschichten, Mägde, Knechte und Gesellen, nicht auf der Seite der Lutherischen.

In der Stadt kam es um 1524 bis 1526 immer wieder zu Auschreitungen. Lutherische Bürger beschimpften Domherren und altgläubige Franziskaner aus Sachsen, die sich in Hamburg zu einem Ordenskonvent (Kongress) trafen. Altgläubige versammelten sich im Dominikanerkloster St. Johannis und nannten sich Johannisleute. Sie liefen schwer bewaffnet durch die Stadt. Ihnen wurde unterstellt, sie planten gewaltsame Übergriffe auf die Anführer der Lutheraner.

Der Rat hatte nach den Aufständen von 1410, 1458 und 1483 vor allem die Ruhe der Stadt im Auge. In jenen Unruhen des 15. Jahrhunderts hatten eben die Mittelschichten erfolgreich Mitspracherechte erkämpft. In seinen Burspraken, den öffentlichen Gesetzesverlesungen, mahnte der Rat jetzt harsch, der Obrigkeit zu gehorchen. Denn der Rat sah sich schon seit Ende des 15. Jahrhunderts als gottgewollte Obrigkeit in der Stadt. Aber diese Gottgewolltheit wurde nun angezweifelt. Die Lutheraner hinterfragten eine Obrigkeit, die auf nicht im Evangelium stehenden Grundsätzen beruhte. Nach dem Bauernkrieg 1524/26 setzte sich im lutherischen Denken zwar die Auffassung durch, man müsse jeder Obrigkeit, die Gott zugelassen habe, sei sie schlecht oder gut, gehorchen. Doch in den Jahren zuvor hatte sich in Hamburg eine starke Opposition gegen das Domkapitel und den Rat entwickelt.

Da dem Stadtrat eine gewaltfreie Lösung wichtig war, lud er die gegnerischen Parteien zu Streitgesprächen, sogenannten „Disputationen“ ein. Nach der letzten Disputation am 28. April 1528 erklärte der Rat, dass die Lutherischen die besseren Argumente hätten, weil sie nachweisen konnten, dass sich die Altgläubigen in ihren Argumenten nicht auf die Heilige Schrift berufen hatten. Die energischsten Vertreter der Altgläubigen wurden der Stadt verwiesen; der Dompropst und der Domdekan  sowie die Dominikanermönche verließen freiwillg die Stadt. Ohne einschneidende Auswirkungen blieb der Prozess, den das Domkapitel gegen die Stadt vor dem kaiserlichen Reichskammergericht anstrengte.

Die Durchsetzung der lutherischen Lehre wurde in einem Rezess, einer Vereinbarung zwischen Bürgern und Rat, festgelegt. Darin regelt der Rat die Angelegenheiten des Glaubens: Die Art der Gottesdienste, die lutherische Predigt und die Verteilung der Almosen. So hat der lutherische Rat die geistliche und die weltliche Obrigkeit in Hamburg übernommen. Doch im selben Rezess wurde auch festgelegt, dass der Rat durch die 48 Kirchspielgeschworenen und 96 Gotteskastenverwalter der Pfarrgemeinden kontrolliert werden sollte.

Noch im 19. Jahrhundert konnte man in Harvestehude Ruinen des Nonnenklosters entdecken

Die letzte Institution, die sich der Lutherischen Lehre widersetzte, war eine weibliche Institution, das Nonnenkloster Harvestehude vor den Toren der Stadt. Dessen Äbtissin, Caecilia von Oldessem, hat sich seit 1528 stetig gegen die lutherische Lehre zur Wehr gesetzt, auch wenn in ihrem Konvent Verwandte der anführenden Lutheraner lebten. Der Reformator Johann Bugenhagen, der nach Hamburg gerufen wurde, um eine Kirchenordnung zu schreiben, verfasste eine Streitschrift gegen die Nonnen. An ihrem Wiederstand scheiterte die gewaltlose Übernahme der neuen Lehre in Hamburg. Im Februar 1530 ließen Kirchspielbürger den Nonnen das Kloster über dem Kopf abreißen. Die neunzehn Nonnen, die noch weiter zusammen leben wollten, mussten sich zum neuen Glauben bekehren und durften dann als Damenstift im St. Johanniskloster leben. Die anderen kehrten in ihre Familien zurück. Eine von ihnen, Anna Eycke,  heiratete Stefan Kempe.

 

Literatur:

Johannes Bugenhagen (1485-1558). Der Bischof der Reformation; Beiträge der Bugenhagen-Tagungen 2008 in Barth und Greifswald, hg. v. Irmfried Garbe und Heinrich Kröger, Leipzig 2010.

Johannes Bugenhagen: Der Ehrbaren Stadt Hamburg christliche Ordnung 1529. De Ordeninge Pomerani; unter Mitarbeit von Annemarie Hübner herausgegeben und übersetzt von Hans Wenn, Hamburg ²1991 (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs; Bd. 13).

Lorenzen-Schmidt, Klaus-Joachim: Von „bösen“ und „frommen“ Leuten. Der Hamburger Aufstand von 1483, in: Das andere Hamburg. Freiheitliche Bestrebungen in der Hansestadt seit dem Spätmittelalter, hg. v. Jörg Berlin, Köln ²1982 (Kleine Bibliothek; Bd. 237), S. 24-35.

Postel, Rainer: Obrigkeitsdenken und Reformatoren in Hamburg, in: Archiv für Reformationsgeschichte 70 (1979), S. 169-201.

Ders.: Die Reformation in Hamburg 1517-1528, Gütersloh 1986 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte; Bd. 52).   

 

Bildnachweise:

Abb. Titelfeld: „Caritas“ (Ausschnitt), Kupferstich (Pieter Bruegel der Ältere et al.), Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, http://resolver.sub.uni-hamburg.de/goobi/PPN785253254 (CC BY-SA 4.0).

Abb. Thementext: Van ordineringe der hogestenn ouericheyt desser erentriken stadt Hamborch, Ratsversammlung aus dem Stadtrecht 1497 (Ausschnitt), © HAB http://digilib.hab.de/mss/ed000058/start.thm?image=00106 / Universität Wittenberg um 1644, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Uni-WB-1644.jpg?uselang=de) / Stefan Kempe, Staatsarchiv Hamburg, StAHH SSAR-PRT-V115102815380_0002 / Braun-Hogenberg-Plan von Hamburg um 1588 (Ausschnitt), nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hamburg_Braun-Hogenberg.jpg) / Reste des Klosters Harvestehude im 19. Jh. (C. F. Gaedechens), nach Wikimedia Commons (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Karte_kloster_herwardeshude.jpg).