Kolonialwissenschaften

Miriam Gröpl

Das Wissen über Menschen und Orte im Dienste der Wirtschaft

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand eine flächendeckende Institutionalisierung verschiedener Wissenschaften statt, die sich mit Aspekten des kolonialen Systems beschäftigten.

Das Museum für Völkerkunde in dem Neubau von 1912

In Hamburg baute nicht nur das Museum für Völkerkunde (seit 2018 Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt, kurz: MARKK) seine Sammlungen und politischen Einfluss aus, auch das Kolonialinstitut an der Moorweide vergrößerte seinen Lehrbetrieb und ging 1919 schließlich in der neu gegründeten Universität Hamburg auf.

Das 1911 für das Allgemeine Vorlesungswesen errichtete Gebäude beherbergte auch das Kolonialinstitut

Die Geographische Gesellschaft wurde 1873 ebenfalls mit dem Ziel gegründet, eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft herzustellen und so die Interessen der Hamburger Kaufmannschaft in Übersee voranzutreiben.

Die ab den 1870er Jahren aufkommende Völkerkunde fiel nicht zufällig zeitlich mit den kolonialen Bestrebungen des Deutschen Reichs ab 1884 zusammen. Mit der wirtschaftlichen Erschließung überseeischer Gebiete boten sich dort auch neue wissenschaftliche Untersuchungsfelder, die vorher nicht abgedeckt worden waren. Gegenstand der völkerkundlichen Untersuchung waren häufig vermeintliche „Entwicklungsstufen“ von Gesellschaften, an deren Spitze die eigene europäisch-westliche Gesellschaftsform stand. So dienten die wissenschaftlichen Untersuchungen auch immer dazu, die eigene Kultur als überlegen darzustellen und damit die europäische Herrschaft über große Teile der außereuropäischen Welt zu rechtfertigen.

Die Anfertigung von Karten mit genauen Grenzziehungen war wichtig für die Durchsetzung kolonialer Herrschaft

Die Geografie wartete mit Kenntnissen auf, um Kolonialgebiete zu strukturieren und so kontrollierbar zu machen. Grenzziehungen ermöglichten die Aufteilung von Gebieten und die Erkundung von Landschaften und geografischen Gegebenheiten. Sie erleichterten Kolonialtruppen und –beamten den Aufenthalt in ihnen bisher nicht bekannten Gebieten. Diese Grenzen waren aber künstlich und hatten mit der Lebenswelt der Bewohner der erforschten Gebiete oft wenig zu tun. Weiterhin sollte umfangreiches Kartenmaterial angelegt werden, um späteren Expeditionen eine Orientierung im bereisten Gebiet zu ermöglichen. Besonders wichtig waren dabei detaillierte Reiseberichte, die den Auftraggebern der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung hinterher ein möglichst genaues Bild aller Erlebnisse liefern sollten.

Dabei war es von zentraler Bedeutung, die wissenschaftlichen Erkenntnisse durch möglichst umfangreiche Feldforschung und mitgebrachte Objekte aus den untersuchten Gebieten, zum Beispiel durch Gesteins- und Pflanzenproben oder durch Menschen der jeweiligen Kultur zu belegen.

Auch die Lehr- und Schausammlung im Hamburger Tropenkrankenhaus profitierte von den mitgebrachten Proben aus den Kolonien

1908 bis 1910 entsandte das Hamburger Museum für Völkerkunde eine der größten ethnologischen[1] Expeditionen nach Mikronesien und Melanesien, um Aufzeichnungen, Fotografien und Objekte zu sammeln. Ein erklärtes Ziel der Expedition war es unter anderem, mithilfe der wachsenden Ethnologie1 eine deutsche Kolonialpolitik zu unterstützen und zu formen. Wissenschaften und koloniale Bestrebungen bedingten sich dabei gegenseitig. Während die koloniale Expansion der Ethnologie oder der Geografie geeignete Untersuchungsgegenstände eröffnete, trugen die Ergebnisse der kolonial ausgerichteten Wissenschaften zur Rechtfertigung und Ausweitung der deutschen Aktivitäten und Inbesitznahmen außerhalb Europas bei. In den Kolonien dienten die vermeintlich wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse dazu, die Bevölkerung besser zu kontrollieren, denn bei der Diskussion über den Wert und die Nutzung der Kolonien ging es auch um den Umgang mit den dortigen Bewohnern.  Um den Profit der Kolonien zu steigern, musste man sie kennen.

Als Handels- und Wirtschaftsmetropole war die Frage nach der Gründung einer eigenen Universität in Hamburg ab den 1880er Jahren zwar diskutiert, aber nicht eindeutig geklärt worden. Das nötige Wissen und Handwerkszeug eigneten sich junge Kaufleute in Handelsschulen und durch Ausbildungen in Betrieben an, eine weiterführende Ausbildung erachteten viele Hamburger als überflüssig.

Wusste die deutsche Kolonialbegeisterung für Hamburg als Wissenschaftsstandort zu nutzen – Schulsenator Werner von Melle

Der spätere Erste Bürgermeister Werner von Melle (1853-1937) war als Leiter der Oberschulbehörde an einem Ausbau des Hamburgischen Bildungs- und Wissenschaftssystems interessiert und nutzte die kolonialen Bestrebungen des Deutschen Reichs, um Hamburg als Wissenschaftsstandort zu stärken – Kolonialausbildung und Kolonialwissenschaften sollten an einem Standort verbunden werden.

Mit der zunehmenden Expansion Hamburgischer Handelshäuser und der weiteren Entwicklung des Hafens als zentralem Ausgangspunkt für Handel und Reisen aller Art in Kolonialgebiete wurde die Hansestadt auch zum Ausgangspunkt für offizielle Vertreter des Deutschen Reichs. Koloniale Herrschaft aufrechtzuerhalten und die deutschen Gebiete in Übersee zu verwalten, erforderte speziell ausgebildetes Personal. 1908 wurde das Hamburgische Kolonialinstitut eröffnet, dessen Aufgaben waren

„die gemeinsame Vorbildung von Beamten, die vom Reichskolonialamte an das Institut überwiesen werden, und von anderen Personen, die in die deutschen Schutzgebiete zu gehen beabsichtigen; 2) die Schaffung einer Zentrale, in der sich alle wissenschaftlichen und wirtschaftlichen kolonialen Bestrebungen konzentrieren können.“[2]

Das Vorlesungsgebäude verfügte für die verschiedenen Nutzer über mehrere größere und kleine Vorlesungssäle

Die angebotenen Vorlesungen und Seminare sollten von angehenden Kolonialbeamten wie von Kaufleuten gleichermaßen wahrgenommen werden, und im Gründungssemester 1908/09 hatte das Institut 56 eingeschriebene Studenten. Die erwarteten Zahlen an Auszubildenden blieben über die Jahre allerdings aus, und die Lehrveranstaltungen wurden weniger gut besucht als erhofft. Die Institute und Verwaltung des Kolonialinstituts hatten die Hansestadt trotzdem deutlich näher an eine Universität gebracht, da die erforderlichen Strukturen zu einem großen Teil bereits im Kolonialinstitut angelegt waren. Nach dem Verlust der deutschen Kolonien 1919 entfielen die ursprünglichen Ziele des Kolonialinstitutes, und einige seiner ehemaligen Fachbereiche wurden in die neu gegründete Hamburger Universität integriert wie zum Beispiel das Asien-Afrika-Institut. Auch Professoren und wissenschaftliches Personal wurden von den ehemaligen Kolonialwissenschaften in den neuen Fachbereich der Auslandswissenschaften der jungen Universität übernommen.

Noch vor dem Kolonialinstitut nahm am 1. Oktober 1900 das Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten seine Arbeit in Hamburg unter der Leitung des Arztes Bernhard Nocht auf.

Das heute nach Bernhard Nocht benannte Tropeninstitut (mittig) wurde auf dem Elbhang westlich der Navigationsschule (rechts im Hintergrund) errichtet

Nocht war zuvor als Hafenarzt für die Behandlung erkrankter Seeleute und Reisender zuständig gewesen und hatte Hamburg als idealen Standort für ein Tropeninstitut beworben, an dem es, durch den Seehandel bedingt, besonders viele Patientinnen und Patienten mit bisher unbekannten oder seltenen Krankheiten zu behandeln gab. In den Jahren 1910 bis 1914 wurde dann der bis heute bestehende Flügelbau in der damaligen Bernhard-Straße (heute Bernhard-Nocht-Straße) auf St. Pauli in unmittelbarer Nähe zum Hafen errichtet.

Das Tropeninstitut war neben der Behandlung von erkrankten Patientinnen und Patienten auch mit der Erforschung von Tropenkrankheiten und der reisemedizinischen Beratung für den Aufenthalt in den Deutschen Schutzgebieten und anderen Kolonien beauftragt.

Außerdem lieferte es ebenfalls Daten über die Verbreitung von Krankheiten und geografische Gegebenheiten der Zielgebiete.

 

Grundlegende Literatur:

Köpke, Wulf (Hg.): Hamburgs Tor zur Welt. 125 Jahre Museum für Völkerkunde Hamburg, Hamburg 2004.

Laukötter, Anja: Vom der „Kultur“ zur „Rasse“, vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihr Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2007.

Ruppenthal, Jens: Kolonialismus als „Wissenschaft und Technik“. Das Hamburgische Kolonialinstitut 1908 bis 1919, Stuttgart 2007.

Thode-Arora, Hilke: Für fünfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Völkerschauen, Frankfurt/Main 1989.

 

Hinweise und Zitate:

[1] Ethnologie – Wissenschaft von den verschiedenen Kulturen der Menschheit.

[2] Zit. Nach: Albert Gouaffo: Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext. Das Beispiel Kamerun – Deutschland (1884-1919), Würzburg 2007, S. 45.

 

Bildnachweise:

Abb. Titelfeld: Labor im Tropenkrankhaus (Ausschnitt), Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_134-06=77_35. 005.

Abb. Thementext: Museum für Völkerkunde Hamburg, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hamburg_Rotherbaum_DS205n2.jpg?uselang=de) / Vorlesungsgebäude von Südosten, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_141-21=06_577 / Karten deutscher Kolonien, nach Wikimedia Commons (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Karten_-_Togo,_Deutsch-Ostafrika,_Kiautschou,_Deutsch-S%C3%BCdwestafrika,_Kamerun,_Die_deutschen_Besitzungen_im_Stillen_Ozean.jpg) / Lehr- bzw. Schausammlung im Tropenkrankenhaus, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_134-06=77_35. 002 / Werner von Melle 1905, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Werner_von_Melle_1905.jpg) / Vorlesungsgebäude ESA, Größter Hörsaal, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_141-21=06_586.001 / Tropenkrankhaus, Staatsarchiv Hamburg, StAHH 720-1_134-06=77_31. 001.