Jutta Braden
Die „Portugiesen“ – heimliche Glaubensflüchtlinge und die erstmalige Zulassung von Juden in Hamburg
Juden war es seit dem Mittelalter Jahrhunderte lang nicht erlaubt, in der Hansestadt Hamburg zu leben. Erst 1612 wurden erstmals Angehörige dieser religiösen Minderheit dort zugelassen. Wie kam es zu dieser politischen Kehrtwende? Dafür waren wirtschaftliche Gründe verantwortlich. Damals wie heute stellten Handel und Schifffahrt die tragenden Säulen der Wirtschaft dieser Stadt dar. Während bis in das 16. Jahrhundert hinein der Ostseeraum (Hanseraum) das hauptsächliche Handelsgebiet Hamburgs war, änderte sich das zum Ende des 16. Jahrhunderts grundlegend. Seitdem strebte die Stadt an der Elbe verstärkt danach, Anschluss an den aufblühenden, hohe Gewinne versprechenden Handel über den Atlantik zu erlangen. Daher hatte man in der Stadt um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert Kaufleute aus der Fremde aufgenommen, die über gute Kenntnisse und Kontakte in diesem Handelsbereich verfügten.
Unter diesen Glaubensflüchtlingen unter anderem aus den Niederlanden befanden sich auch Katholiken; bei diesen handelte es sich zum Teil um Nachkommen von Juden (Sefarden oder portugiesische Juden), die in Spanien und Portugal von der Inquisition verfolgt und zwangsweise getauft worden waren. Einige dieser portugiesischen Kaufleute nahmen in Hamburg (wie auch an anderen Zufluchtsorten wie zum Beispiel Amsterdam) wieder den jüdischen Glauben ihrer Vorfahren an. Um 1610 stand daher in der Stadt die Frage auf der Tagesordnung der Politik, ob diesen Juden der Aufenthalt in Hamburg gestattet werden sollte.
Darüber zu entscheiden, war Aufgabe der Stadtregierung, des Rates und der politisch mitspracheberechtigten Bürgerschaft. Diese politischen Gremien wurden nicht wie heute demokratisch gewählt. Nur eine Minderheit der Einwohner Hamburgs, nämlich Männer lutherischer Konfession, die Grundbesitz und das Bürgerrecht besaßen, konnten dort hinein gelangen. Welcher Bürger auf eine freie Ratsherrenstelle berufen wurde, bestimmte zudem der überwiegend aus Kaufleuten und einigen Juristen bestehende Rat selbst.
Bei der Entscheidung über Aufnahme der portugiesischen Juden hatten Rat und Bürgerschaft nicht nur (wirtschafts-)politische, sondern auch religiöse Belange zu berücksichtigen. Denn die Stadtregierung war seit der Reformation dazu verpflichtet, für den Erhalt des allein als ‚wahr’ geltenden lutherischen Glaubens in Hamburg einzutreten. Überwacht wurde sie dabei von den Geistlichen. Diese besaßen die Macht, durch ihre Predigten Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. In den damals äußerst gut besuchten Gottesdiensten waren die Kanzelvorträge der Pastoren für Meinungsbildung und Stimmungsmache von ähnlich großer Bedeutung wie heute das Fernsehen und Online-Medien.
In religiöser Hinsicht war die Frage, ob Juden gestattet werden dürfte, in Hamburg zu leben, von hoher Brisanz. In der sich als ‚rechtgläubig’ (orthodox) verstehenden damaligen christlichen Glaubenslehre lutherischer Prägung gab es nicht einmal Toleranz gegenüber anderen christlichen Glaubensrichtungen wie zum Beispiel dem Katholizismus. Noch tiefer war der Gegensatz zwischen Christentum und Judentum, weil zentrale Glaubenssätze beider Religionen einander widersprachen. Während Juden zum Beispiel nach wie vor auf das Kommen des Messias hofften, sahen Christen die biblische Messiasverheißung in der Gestalt Jesu Christi als bereits erfüllt an.
Aus christlicher Sicht war die jüdische Religion falsch und Juden galten als Gotteslästerer, die der christlichen ‚Wahrheit’ verstockt und blind gegenüber standen. Unter Christen lebende ‚jüdische Gotteslästerer’ stellten nach Ansicht auch der hamburgischen lutherischen Geistlichen eine Gefahr für das Christentum dar. Einige lutherische Theologen sahen zwar die Aufnahme von Juden durch die in der Bibel verheißene Bekehrung der Juden zum christlichen Glauben als gerechtfertigt an. Die damaligen Hamburger Pastoren jedoch waren anderer Meinung und forderten – auch öffentlich von den Kanzeln – die Ausweisung der portugiesischen Kaufleute aus der Stadt, die wieder Juden geworden waren.
Dem Hamburger Rat gelang es jedoch, den Widerspruch der heimischen Geistlichkeit durch einen geschickten Schachzug auszuhebeln. Dazu dienten Gutachten, die der Rat bei an den damals führenden protestantischen Universitäten Jena und Frankfurt/Oder lehrenden Theologieprofessoren bestellt hatte. In diesen Gutachten wurde die Duldung von Juden wegen der biblischen Verheißung ihrer Bekehrung zum christlichen Glauben befürwortet. Mit diesen zustimmenden Voten theologischer Autoritäten im Rücken konnte der Rat 1612 den ersten Niederlassungsvertrag mit den portugiesischen Juden in Hamburg abschließen.
Die wirtschaftlichen Regelungen in diesem Vertrag ermöglichten den portugiesischen Juden zwar die freie Entfaltung ihrer kaufmännischen Fähigkeiten, aber Synagogen und überhaupt die Ausübung ihrer jüdischen Religion wurde ihnen darin verboten, eine Einschränkung, die genau wie das Verbot, sich lästerlich über das Christentum zu äußern, die Vorrangstellung des Luthertums in der Stadt sichern sollte. In religiöser Hinsicht wurde den portugiesischen Juden einzig das Recht zugestanden, ihre Verstorbenen außerhalb der Stadt auf dem Friedhof an der späteren Königstraße in Altona zu bestatten, den sie 1611 von dem Grafen von Schauenburg erworben hatten.
In den Jahrzehnten nach dem Abschluss des Niederlassungsvertrages mit der Stadtregierung im Jahr 1612 wuchs die Zahl der portugiesischen Juden in Hamburg von etwa 150 bis auf etwa 600 in den sechziger Jahren an. Die portugiesischen Juden schlossen sich in der Stadt zu einer Gemeinde zusammen. Das zeigt sich zum einen an dem Friedhof, den die portugiesischen Juden 1611 in Altona erwarben, und zum anderen an den drei Betgemeinschaften, zu denen sich die portugiesischen Juden schon im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts zusammen taten. Diese „Keter Tora“, „Neve Schalom“ und „Talmud Tora“ genannten Gemeinschaften hatten ihren Platz in Wohnhäusern der Juden. Sie stellten einen Ersatz für die ihnen in der Stadt verbotenen Synagogen dar. Obwohl auch diese Gebetsversammlungen im privaten Rahmen eigentlich verboten waren, wurden sie vom Hamburger Rat stillschweigend geduldet.
Der Grund dafür lag in der wirtschaftlichen Tätigkeit der portugiesischen Kaufleute, die der Rat als höchst bedeutsam für Hamburgs Handel und Schifffahrt einschätzte. Denn die ausgezeichneten Handelskontakte der Portugiesen zu den Niederlanden und zur Iberischen Halbinsel trugen dazu bei, dass Hamburg zu einer Drehscheibe des Warenimports und –exports werden konnte. Das heißt, Hamburg wurde eine Zentrale des Umschlags von Waren aus Übersee (u. a. Zucker, Gewürze, Farbstoffe, Holz, Tabak, u. a. aus Brasilien) und heimischer Waren (Textilien, Metallwaren, Waffen, Munition und vor allem Getreide z. B. aus dem östlichen Ostseeraum). Neben den Großhändlern spielten aus der Sicht des Rates auch die mit Geldgeschäften befassten portugiesischen Juden (Bankiers, Finanziers) eine wichtige Rolle für die Stadtwirtschaft.
Zwar lag das religiös-kulturelle Zentrum der portugiesischen Juden in Amsterdam, wo sich aufgrund liberaler Lebensbedingungen für Juden im 17. Jahrhundert eine sefardische Gemeinde von beachtlicher Größe und Finanzkraft mit einem hohen kulturell-religiösen Standard bildete. Aber auch in Hamburg gaben portugiesisch-jüdische Gelehrte und Rabbiner wie z. B. Moses Gideon Abudiente oder David Cohen de Lara sowie Ärzte wie z. B. Benedikt de Castro der Gemeinde ein besonderes Gepräge. Dazu trug auch bei, dass etliche der portugiesischen Juden in Hamburg als Diplomaten, Finanzverwalter oder Leibärzte für auswärtige Machthaber tätig waren. Dazu gehörte auch Benedikt de Castro, einer der Söhne von Rodrigo des Castro, den die schwedische Königin Christine als ihren Leibarzt auserkoren hatte. Im Dienst dieser Königin stand auch der äußerst erfolgreiche Unternehmer Diego Teixeira, der in Hamburg lapidar als der „reiche Jude“ bezeichnet wurde; Diego Teixeira und später sein Sohn Manuel kümmerten sich um die Finanzen der schwedischen Königin.
Diese und andere Angehörige der portugiesisch-jüdischen Oberschicht führten in Hamburg ein Leben, das von Wohlstand, Luxus und hohem Sozialstatus geprägt war. Den heimischen Geistlichen war das ein Dorn im Auge, denn nach der lutherischen Glaubenslehre sollten Juden in christlichen Gesellschaften allenfalls auf der niedrigsten Rangstufe, im Stande der Knechtschaft leben. Ebenfalls stießen sich die Prediger daran, dass die portugiesischen Juden im Widerspruch zum Wortlaut des Niederlassungsvertrags religiöse Versammlungen in ihren Wohnhäusern abhalten konnten, ohne dafür vom Senat belangt zu werden.
Solange die Stadt durch den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) von außen bedroht wurde, verzichteten die Geistlichen darauf, den laxen Umgang der Stadtregierung mit den portugiesischen Juden öffentlich zu kritisieren. Ab 1647 allerdings, als sich das Ende des Krieges abzeichnete, begannen sie, ihrem angestauten Ärger von den Kanzeln herab Luft zu machen.
Vermehrt legten die Geistlichen seitdem den Schwerpunkt in ihren Predigten auf die Juden, die nach der lutherischen Glaubenslehre als ungläubig und bedrohlich für das christliche Seelenheil galten. Eine führende Rolle nahm dabei der Pastor an der St. Petrikirche Johannes Müller (1626-1672) ein, der 1648 der oberste Geistliche (Senior) in Hamburg wurde. Müller hatte sich intensiv mit dem Judentum auseinandergesetzt und 1644 ein umfangreiches Buch zu diesem Thema mit dem Titel „Judaismus“ veröffentlicht. Die Kernbotschaft darin lautet, dass die christliche Religion‚wahr’ und die jüdische Religion ‚falsch’ sei.
Die geistlichen Attacken gegen die Juden und ihre Religion, wie z. B. die Beschimpfung von Synagogen als „des Satans Schulen“, blieben nicht ohne Wirkung. Sie schürten in der christlichen Mehrheitsgesellschaft dumpfe Gefühle der Abneigung und des Hasses auf die Juden, die sich auch in gewalttätigen Übergriffen entluden. Für den Senat, für den wie für alle Regierungen in jener Zeit die Bewahrung von Ruhe und Ordnung oberstes Gebot war, stellte nicht nur diese Entwicklung ein Alarmsignal dar. Denn die Offensive der Geistlichen gegen die Juden führte auch dazu, dass das höchste Vertretungsgremium der Bürgerschaft, die Oberalten, und die Bürgerschaft selbst Protest gegen die nach dem Niederlassungsvertrag unzulässigen Gebetsversammlungen der portugiesischen Juden erhoben.
Den Senat versetzte diese bürgerschaftliche Reaktion deshalb politisch in ein Dilemma, weil die portugiesischen Juden auf der anderen Seite ebenfalls Druck ausübten. Das Mittel dazu bot ihnen eine Niederlassungserlaubnis, die sie für die Stadt Stade erwirkt hatten. Dass dem Senat im Interesse von Hamburgs Handel und Wirtschaft an ihrem Verbleib in der Stadt sehr gelegen war, stand außer Frage. Daher stellte die Drohung der portugiesischen Juden, Hamburg zu verlassen, ein wirksames Druckmittel dar. Damit verliehen sie ihren Forderungen nach Schutz gegen Gewalttaten und der Möglichkeit Nachdruck, in Hamburg unbehelligt zum Gebet zusammen kommen zu können.
Im Mittelpunkt dieses Konflikts stand also erneut die brisante Frage, ob theologische oder wirtschaftliche Erwägungen maßgeblich für die Judenpolitik sein sollten. Im Ergebnis gelang es dem Senat, diese politische Krise zu entschärfen, ohne in eine Debatte über diese Grundsatzfrage eintreten zu müssen. Dazu trugen zum einen gutachtliche Äußerungen theologischer Autoritäten bei, die private Gebetsversammlungen der portugiesischen Juden als vereinbar mit den Vorgaben der lutherischen Glaubenslehre erklärten. Zum anderen fand der Senat im Bürgerlichen Kollegium der Oberalten schließlich doch Unterstützung für eine neue Rechtssatzung, die den portugiesischen Juden die Religionsausübung im privaten Rahmen gestattete. Um es in Kraft zu setzen, musste diesem Gesetz allerdings die Bürgerschaft zustimmen, die in Fragen der Juden eher auf der Seite der Geistlichkeit als der des Rates stand.
Die Zustimmung der Bürgerschaft zur neuen Judenordnung erlangten Rat und Oberalte durch einen politischen Schachzug, der zu Lasten der in Hamburg ebenfalls wohnhaften aschkenasischen Juden ging. Aschkenasen, also Juden aus dem deutschsprachigen Raum, lebten seit den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts – allerdings ohne offizielle rechtliche Absicherung – in Hamburg.
Einige Aschklenasen lebten als Angestellte der Sefarden in der Stadt und waren von der Ausweisung nicht betroffen. Um von der Verbesserung der Rechtslage der portugiesischen Juden durch die Judenordnung abzulenken, wurde der Bürgerschaft angetragen, die Ausweisung der aschkenasischen Juden aus der Stadt zu beschließen. Diese spektakulär judenfeindliche Entscheidung, die von der Bürgerschaft tatsächlich getroffen wurde, erzielte die von Rat und Oberalten erhoffte Wirkung. Denn die Bürgerschaft stimmte der neuen Judenordnung für die portugiesischen Juden zu, nachdem durch die Ausweisung der Aschkenasen dem in diesem politischen Gremium verbreiteten Verlangen Genüge getan war, die Anzahl der in der Stadt lebenden Juden zu verringern.
Damit trat gegen den Protest der Geistlichen 1650 die neue Judenordnung in Kraft, durch die die Niederlassung der portugiesischen Juden in Hamburg, so wie vom Rat erstrebt, gesichert wurde. Die aschkenasischen Juden hingegen mussten Ostern 1649 Hamburg verlassen. Sie siedelten sich in Altona an, dem Ort vor den Toren Hamburgs, wo Juden unter der Herrschaft der Grafen von Schauenburg seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts besonders großzügige Privilegien genossen.
Literatur:
Braden, Jutta: Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie 1590-1710, hg. v. der Stiftung Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg 2001 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 23).
Die Sefarden in Hamburg. Zur Geschichte einer Minderheit (2 Bde.), hg. v. Michael Studemund-Halévy, Hamburg 1994-1997 (Romanistik in Geschichte und Gegenwart; Bd. 29).
Freimark, Peter; Lorenz, Ina und Marwedel, Günter: Judentore, Kuggel, Steuerkonten. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Juden, vornehmlich im Hamburger Raum, Hamburg 1983 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; Bd. 9).
„Mein Vater war portugiesischer Jude …“. Die sefardische Einwanderung nach Norddeutschland um 1600 und ihre Auswirkungen auf unsere Kultur; Ausstellung Lübeck 1992, hg. v. Sabine Kruse und Bernt Engelmann, Göttingen 1992.
Poettering, Jorun: Handel, Nation und Religion. Kaufleute zwischen Hamburg und Portugal im 17. Jahrhundert, Göttingen 2013.
Bildnachweise:
Abb. Titelfeld: Portugiesische Majolika aus der Ausstellung „Juden in Hamburg“ im Museum für Hamburgische Geschichte, Foto Silke Urbanski.
Abb. Thementext: Frühneuzeitliche Juden in Tracht, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, aus A 1946/13528 / Chinesisches Porzellan aus der Ausstellung „Juden in Hamburg“ im Museum für Hamburgische Geschichte, Foto Silke Urbanski / Antijüdische Streitschrift von Martin Luther, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1543_On_the_Jews_and_Their_Lies_by_Martin_Luther.jpg) / Sephardische Gräber auf dem Friedhof Königstraße, nach Wikimedia Commons (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:J%C3%BCdischer_Friedhof_Altona_Sephardischer_Teil-01.nnw.jpg) / Grammatik des Moses Gideon Abudiente, nach Wikimedia Commons (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Abudiente_Gramatica_Hebraica.jpg) / Aschkenasische Gräber auf dem Friedhof Königstraße, nach Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hamburg.Altona.Judenfriedhof.wmt.jpg?uselang=de).